Das Ich der Philosophen

 

Was ist das Schöne am Ich? Seine Individualität. Beispielsweise kann dadurch jeder für sich selbst die unglaublichsten Theorien über die Beschaffenheit der Wirklichkeit konstruieren. Unter einer Bedingung: Sie sollten wenigstens einigermaßen funktionieren. Aber auch das Verständnis von Funktionieren ist individuell. Und damit sind Auseinandersetzungen vorprogrammiert. Was für den einen wunderbar funktioniert, wird vom anderen als komplett unsinnig verworfen.

Nun gibt es da eine ganz besondere Spezies. Die Philosophen. Die beschäftigen sich, man glaubt es kaum, hauptberuflich mit der Konstruktion von Modellen über die Wirklichkeit. Und diese Philosophen, zumindest die bekannteren, sind alles andere als auf den Kopf gefallen. Im Gegenteil. Die hellsten Köpfe ihrer Zeit. Und doch ist es so, dass selbst diese klugen Köpfe zu unterschiedlichen Ergebnissen über die Beschaffenheit der Wirklichkeit kommen. Das ist schon ein bisschen merkwürdig und lässt die Arbeit dieser Herrschaften in einem etwas seltsamen Licht erscheinen. Nun könnte man auf den Gedanken kommen, dass die Wirklichkeit einfach so kompliziert ist, dass selbst Genies an ihre Grenzen gelangen und es daher nicht ausgeschlossen ist, dass unterschiedliche Konzeptionen entstehen. Unterschiedliche Charaktere mit unterschiedlichen Lebensläufen. Jeder filtert aus der Wirklichkeit einen etwas anderen Ausschnitt heraus, einen ganz individuellen Ausschnitt, der für den einzelnen den meisten Sinn ergibt.

Doch könnte man sich, Überraschung, noch eine zweite Option vorstellen. Diese klingt vielleicht etwas ungewöhnlich. Aber was heißt das schon heutzutage. Hier stellt man sich das Individuum als einen komplexen, in der Wirklichkeit ablaufenden Prozess vor, und das Ich ist einfach nur ein Resultat dieses individuellen Prozesses. Die Frage ist nun, ob es für das Resultat eines Prozesses überhaupt möglich ist, den Zusammenhang von Prozess und Wirklichkeit, und damit sein eigenes Zustandekommen, zu verstehen. Logische Widerspruchsfreiheit ist sicher etwas anderes. Was das entstandene Ich aber tun kann, ist das Aufstellen von Hypothesen und das Entwickeln von Modellen. Welches Problem dabei auftritt, ist mehr als offensichtlich. Solange diese Hypothesen und Modelle davon ausgehen, dass das Ich die Welt beschreibt, sind sie zum Scheitern verurteilt. Damit wären wir wieder bei den Philosophen mit ihren unterschiedlichen Konstruktionen über die Beschaffenheit der Wirklichkeit.

Was also ist zu tun? Die Beschreibung der Wirklichkeit darf nicht vom Ich aus erfolgen. Und sie muss das Entstehen des Ich einschließen.

 

In diesem Zusammenhang die Definition des „Selbst“ von Rudolf Kaehr:

Die Simultaneität von volitiven und kognitiven Akten läßt sich als das Selbst eines selbstorganisierenden Systems im Sinne eines lebenden Systems verstehen. Das Selbst ist nicht positiv bestimmbar, weil es weder dem volitiven noch dem kognitiven System zu zuordnen ist. Das Selbst ist der Mechanismus des Zusammenspiels von Kognition und Volition selbst. Dieser Mechanismus ist selbst nicht wieder ein kognitiver oder volitiver Operator und daselbst auch nicht der Träger von beiden. Daher gibt es keinen Referenten, der als das „Selbst“ designierbar wäre. Damit gibt es aber auch keine Wahrheit des Selbst, wenn Wahrheit Unverborgenheit, aletheia, heißt.

(Rudolf Kaehr, VOM SELBST IN DER SELBSTORGANISATION - Reflexionen zu den Problemen der Konzeptionalisierung und Formalisierung selbstbezüglicher Strukturbildungen)