Arbeit, Spiel und Poesie

 

Das Dasein in spielerischer Selbstvergessenheit hat nicht erst mit der Erfindung der Computer (und der Automation) begonnen: Es war immer und überall das für den Menschen charakteristische Dasein. Nur hatte man früher den Eindruck, als handle es sich um ein nur Kindern entsprechendes Dasein. Wenn der Ernst des Lebens beginnt (also die Arbeit als Tun und Leiden), dann muss die Heiterkeit aufgegeben werden. Dieser Eindruck ist auf die grundlegend untertänige Einstellung zum Dasein zurückzuführen: In der Arbeit erst erfahren wir uns als Subjekte, und daher ist das spielerische Dasein nicht als Selbstvergessenheit, sondern als vorsubjektives Stadium zu sehen. Das Kind bricht nicht durch die Kapsel der Subjektivität, sondern es hat sie noch nicht gesponnen. Allerdings war immer und überall zu beobachten, dass manche Menschen ihr Leben lang im Spielerischen verbleiben. Diese Infantilität wurde als „künstlerisches Dasein“ in einem sehr eigentümlichen Sinn verstanden: derartige „ewige Adoleszenten“, die nie den Ernst des untertänigen Lebens erzielten, nannte man mit einer Mischung aus Neid, Bewunderung und Verachtung „Poeten“. (Das deutsche Wort „Dichtung“, das von dicere = sagen kommt, verhüllt das Gemeinte.) Poeten sind Leute, welche etwas machen (poiein), ohne dabei zu arbeiten (weder im Sinne von „work“ noch von „labor“), und man unterschied sie von den „ernsten“ Künstlern, von Leuten, welche Werte auf das Sosein drücken (von den „Mimeten“, den Nachahmern der ewigen Werte). Die Unterscheidung von Poiesis und Mimesis – zwischen heiterer und ernster „Kunst“, zwischen müßigem und arbeitendem Machen – war eine Herausforderung an die Kontemplierenden (die „Philosophen“): Sind die Poeten etwa unernste Philosophen, oder im Gegenteil die Philosophie eine ernste Spielart der Poesie, ein poetischer Spezialfall? Die graue Zone zwischen Philosophie und Poesie stellte etwa im Fall Platons oder Nietzsches schon immer das kontemplierende Dasein (die vita contemplativa) in Frage. Mit der Erfindung der Computer jedoch gewinnt diese Frage eine neue Färbung. Es stellt sich nämlich dabei heraus, dass das poetische Machen (lateinisch ponere) das Gegenteil von Arbeiten ist. Arbeiten ist ein Herstellen (ein „Imponieren“), und Poesie ist ein Herausstellen (ein „Exponieren“). Die Poesie stellt spielerisch (ludisch, kombinatorisch) Modelle aus sich heraus, welche mittels Arbeit (Mimesis der Poiesis) als Wirklichkeiten hergestellt werden. Anders gesagt, in der Poesie stellt sich heraus, was in der Wirklichkeit mittels Arbeit hergestellt werden soll, das „Sollen“, die Werte. Das war schon immer so: Die Poeten waren schon immer die Heraussteller der Werte, und das ist im Wort „Poiesis“ enthalten. Man konnte dies jedoch nicht einsehen, solange man entweder an die Gegebenheit der Werte oder daran glaubte, dass sich die Werte erst durch Arbeit ergeben. Beim Computer jedoch kommt man um diese Einsicht nicht herum: Aus dem komputierenden Spiel stellen sich Modelle heraus (Software), welche von Automaten zu Werkzeugen verwirklicht werden. Erst beim Computer wird deutlich, was der Begriff „Poesie“ schon immer gemeint hat.

 

Aber obwohl man dies einsehen muss, hat man Schwierigkeiten. Solange man nämlich im Subjektiven befangen ist, meint man, das Spiel mit Computern geschehe in der Absicht, Arbeitsmodelle herzustellen. Komputieren sei Programmieren von Automaten, also doch eine erste Phase im Arbeitsprozess und nicht ein kontemplieren. Die Gefahr, die in der postmodernen Technik lauert, besteht darin, dass die Computerspiele ernstgenommen werden. Durch ein näheres Hinsehen lässt sie sich jedoch vermeiden. Für die in Selbstvergessenheit Spielenden ist die Tatsache, dass sich beim Spielen ein Arbeitsmodell herausstellen kann, eine Nebensache. Auch das war schon immer so: Dass die Riemannsche Geometrie Anwendung findet, ist für Riemann Nebensache. Für die in Selbstvergessenheit Spielenden ist ihr Spiel heiter, das heißt müßig, und wer etwas aus diesem Spiel herausstellen will, ist ein Spielverderber.

 

(Aus: V. Flusser, „Vom Subjekt zum Projekt Menschwerdung“, Fischer Taschenbuchverlag, 1998, S.147–160)