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Maschinenwelt

 

Alle vorausgegangenen Hochkulturen gingen daran zugrunde, dass sie das gesetzte Ziel, ihr eigenes Seelentum ohne reflexiven Restbestand in symbolischen Formen auf die konkrete Existenz zu übertragen, nicht erreichten. Sie interpretierten ihre metaphysische Aufgabe mehr oder weniger dahingehend, dass das Ziel in dem Augenblick erreicht sei, wo alle mögliche inhaltliche Bewusstseinsthematik in das historische Dasein übertragen sei und übersahen die auf diesem Boden realisierbare letzte und extremste Aufgabe: das aller Inhalte beraubte und leer handelnde Subjekt selbst in einer eigenen symbolischen Gestalt in der geschichtlichen Existenz des Menschen zu wiederholen. Erst die faustische Kultur hat diese Aufgabe begriffen und durchgeführt. Das Resultat dieser letzten schöpferischen Konzeption des Menschen auf dem Boden der zweiten historischen Bewusstseinsepoche ist die archimedische Maschine. Dieser Maschinentyp (der einzige, den die regionalen Hochkulturen hervorgebracht haben) ist die symbolische Wiederholung des schlechthin wollenden, resp. handelnden Subjekts.

 

Während alle anderen regionalen Hochkulturen sich darauf beschränkten, die inhaltlichen Reflexionen der sie tragenden Subjektivität symbolisch abzubilden, worauf ihre historische Triebkraft langsam erlischt, treibt die abendländische Kultur ihre geschichtlichen Prozesse um einen entscheidenden Schritt weiter. Auch sie beginnt damit, die inhaltlichen Erlebnismotive des faustischen Seelentums in parallelen Perioden mit den übrigen hohen Geschichtsabläufen auf die Wirklichkeit zu projizieren. Sie bleibt aber dabei nicht stehen und fügt einen weiteren Projektionsschritt hinzu, indem sie jetzt das entleerte und aller inhaltlichen Ziele beraubte Subjekt, das anonyme Tätigkeit ohne Gegenstand ist, in einer neuen, bisher nicht dagewesenen Symbolgestalt auf die geschichtliche Wirklichkeit überträgt. Diese letzte mögliche historische Schöpfung auf der Bewusstseinsebene der regionalen Hochkulturen ist die klassische Maschine, die in ihrem Arbeitsvorgang das abstrakte Handlungsschema des tätigen Subjekts wiederholt. In der Konzeption der Maschine als eines Wirklichkeitsfragments, das selbsttätig arbeitet, hat der Mensch das Erlebnis seiner eigenen subjektiven Spontaneität zum ersten Mal auf die physische Realität übertragen. Es scheint, als ob damit das alte primordiale Motiv, das aller geschichtlichen Existenz zugrunde liegt, nämlich das Spirituelle in das Physische einzubilden und den Logos Fleisch werden zu lassen, nun endlich erfüllt ist. Es scheint, als ob in der Konzeption der Maschine die Subjektivität ohne weitertreibende Reflexionsreste hinter sich zu lassen voll in die konkrete Realität der Welt aufgegangen ist.

 

Wir werden später sehen, dass diese Annahme nur in einem äußert beschränkten Sinn richtig ist.

 

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Die faustische Absicht ist klar. In der Maschinentechnik soll der Tod überwunden werden. Anstelle des organischen Leibes, mit dem der Mensch sich bisher identifiziert hat, tritt der maschinelle Körper, der dem Tode nicht mehr unterworfen ist. Und an die Stelle der spirituellen Gesetzlichkeit des objektiven Geistes, mit der der Wille in der Zivilisation mehr und mehr den Kontakt verliert, treten die unveränderten Gesetze der Maschinenarbeit, mit denen die willensmäßige Identifikation jederzeit möglich ist. Ein Leben, das sich mit der von ihm selbst geschaffenen Maschinenwelt identifiziert, mag (fürs Erste) wohl emotional arm sein und seine spirituelle Tiefe ist zu einer bloßen Potentialität reduziert; es besitzt dafür aber eine Stabilität und naive Sicherheit, wie sie nicht mehr dagewesen ist, seit der Mensch das "goldene Zeitalter" der einwertigen Subjektivität verlassen und sich in das reißende Stromsystem der regionalen Hochkulturen gestürzt hat.

 

(Aus: Gotthard Günther, „Dieser Substanzverlust des Menschen“, https://www.vordenker.de)