Aristotelische "Abschnürung" (5)

Günther bringt seine zentrale Forderung auf den Punkt: Die Philosophie kann ihre Tiefe nur dann retten, wenn sie ihre technologische Formensprache revolutioniert. Die klassische Logik ist nicht falsch, sondern begrenzt – und diese Grenze ist heute erreicht.

Das neue logische Problem, von dem sich Hegel konfrontiert sieht, lässt sich also in der folgenden Frage formulieren: Mit welcher neuen Logik kann man die klassische zweiwertige Logik von Identität, verbotenem Widerspruch, ausgeschlossenem Dritten und zureichendem transzendentalen Grunde denken? In dieser Fassung ist das Problem höchst modern und wird de facto in Teilaspekten in der heutigen mathematischen Logik abgehandelt. Die Russelsche Typentheorie ist eine mögliche (und nicht sehr zureichende) Antwort auf die Frage. Der Intuitionismus ist eine andere Methode, sich diesem Problem zu nähern. Die Aufteilung der philosophischen Logik (Semiosis) in Syntax, Semantik und Pragmatik ist ein wieder anderer Schritt in dieser Richtung. In dem Gegensatz von Syntax, Semantik und Pragmatik sind die Hegelschen Unterscheidungen verschiedener reflexiver Orientierungen des theoretischen Bewusstseins nicht allzu schwer wiederzuerkennen.

Aber allen neueren Versuchen, so sehr sie im Detail Hegel an Präzision und kompetenter Methode übertreffen, lassen jene fundamentale Einsicht der spekulativen Logik vermissen, dass die Reflexion-in-sich auf die Reflexion-in-sich eine qualitativ verschiedene und logisch allgemeinere Bewusstseinslage voraussetzt, verglichen mit derjenigen, die an der klassischen Logik von Identität und verbotenem Widerspruch orientiert ist. Hegel sieht ganz genau, man kann die klassische Logik nicht in Erweiterungen ihrer selbst denken, indem man ihren Bestand entweder in hierarchische Typenordnungen, die sich ins Unendliche fortsetzen können, aufteilt oder indem man ihr Zusätze anfügt, in denen die ursprüngliche thematische Axiomatik rigorosen Restriktionen unterworfen ist.

 

(Aus: Gotthard Günther, „Idee und Grundriß einer nicht-Aristotelischen Logik“, Felix Meiner Verlag, 1978, S. 311)

Analyse

 

I. Einleitung: Die Herausforderung nach der klassischen Logik

Gotthard Günther fasst seine zentrale Fragestellung in scharfer Form zusammen: Wie lässt sich die klassische zweiwertige Logik selbst logisch denken – und zwar jenseits ihrer eigenen Prinzipien? Gemeint ist nicht bloß eine Reform im Inneren des Bestehenden, sondern eine tiefgreifende Revision der Denkform selbst. Diese Herausforderung war für Hegel bereits virulent, konnte von ihm aber noch nicht systematisch gelöst werden – mangels formaler Mittel. Günther erkennt darin ein bis heute ungelöstes Problem: die Notwendigkeit einer nicht-aristotelischen, qualitativ erweiterten Logik, die das Bewusstsein in reflexiver Selbstüberschreitung formal fassen kann.

 

II. Die vier Säulen der klassischen Logik: Ein auslaufendes Paradigma

Die klassische Logik, so Günther, basiert auf vier Grundprinzipien:

  1. Identität (A = A)

  2. Verbot des Widerspruchs (¬(A ∧ ¬A))

  3. Ausgeschlossenheit des Dritten (A ∨ ¬A)

  4. Das Prinzip des zureichenden Grundes (Leibniz)

Diese Struktur begründet das, was Günther eine „zweiwertige Bewusstseinslage“ nennt – eine Denkform, die stets auf eine unmittelbare Unterscheidung von Sein und Nichtsein, Wahrheit und Falschheit, Ich und Nicht-Ich hinausläuft. Hegels philosophisches Projekt bestand darin, diese Struktur aufzuheben, das heißt: dialektisch zu durchstoßen, ohne jedoch ein alternatives logisches System explizit zu entwerfen.

 

III. Moderne Ansätze: Fortschritt ohne Grundlegung

Günther nennt mehrere Versuche des 20. Jahrhunderts, das Problem in Teilaspekten zu bearbeiten:

  • Bertrand Russells Typentheorie: Sie strukturiert Aussagen in hierarchische Typen, um logische Paradoxien zu vermeiden. Doch sie bleibt im Rahmen der klassischen Logik und erweitert sie lediglich technisch – nicht qualitativ.

  • Der Intuitionismus (Brouwer): Dieser verzichtet auf das Gesetz des ausgeschlossenen Dritten. Die Wahrheit einer Aussage muss konstruktiv beweisbar sein. Doch auch dieser Ansatz bleibt im Subjekt verhaftet und führt nicht zu einer verallgemeinerten Reflexionslogik.

  • Morris, Carnap und Peirce: Syntax, Semantik, Pragmatik: Die Differenzierung von Zeichensystemen in diese drei Ebenen bringt tatsächlich Nähe zu Hegels Reflexionsunterscheidungen (etwa in der „Logik des Seins“, „Wesens“ und „Begriffs“). Aber diese Aufteilung bleibt analytisch, nicht dialektisch – sie beschreibt, was Hegel zu begreifen versuchte, ohne seine strukturelle Tiefe zu erreichen.

Günthers Diagnose ist prägnant: All diese Systeme übertreffen Hegel in Präzision, aber sie verpassen seine radikale Einsicht: Dass die klassische Logik nicht durch sich selbst erweitert werden kann – sondern dass sie in einem neuen reflexiven Medium gedacht werden muss.

 

IV. Reflexion-in-sich auf Reflexion-in-sich: Die meta-logische Schwelle

Zentral in Günthers Argument ist die Idee, dass eine Reflexion zweiter Ordnung (Reflexion auf Reflexion) eine neue Bewusstseinslage erfordert. Die klassische Logik operiert nur auf der Ebene erster Ordnung – sie denkt Aussagen über Gegenstände, nicht Aussagen über Aussagen über Gegenstände. Sobald das Denken aber sich selbst thematisiert, kippt das System.

Hegel erkannte diesen Bruch: Er versuchte ihn durch die dialektische Bewegung des Begriffs (These – Antithese – Synthese) zu fassen. Doch Günther hält fest, dass dies nicht genügt, solange kein formalisierbares System entsteht, das diese Bewegung reproduzierbar macht. Hegels Tiefe bleibt ohne technologische Umsetzung – das ist sein historisches Verhängnis.

 

V. Kein Fortschritt durch Addition: Die Sackgasse der Erweiterung

Ein weiterer zentraler Gedanke Günthers lautet: Die klassische Logik lässt sich nicht durch bloße Erweiterung überwinden. Weder die Anfügung von Axiomen noch unendliche Typenhierarchien erzeugen eine neue Denkform – sie behalten die alte Struktur bei, nur verfeinert. Günther verlangt eine qualitative Transformation, nicht eine quantitative Addition.

Das Neue muss nicht nur über das Alte hinausgehen, sondern eine neue Logik des Überschreitens selbst begründen. Dies ist der entscheidende Unterschied zwischen Meta-Erweiterung (Systeme höherer Ordnung) und transklassischer Logik im Sinne Günthers.

 

VI. Ausblick: Der Anspruch einer nicht-Aristotelischen Logik

Günther sieht in der spekulativen Philosophie Hegels eine Phänomenologie des Übergangs – sie zeigt an, dass der klassische Denkmodus an ein Ende gekommen ist. Was fehlt, ist das operative Instrumentarium, um diesen Übergang nachvollziehbar, nachvollziehend und intersubjektiv überprüfbar zu gestalten.

Seine eigene Theorie der nicht-aristotelischen Logik – die in späteren Arbeiten wie „Das Bewusstsein der Maschinen“ (1963) oder in seiner Systemtheorie weiterentwickelt wird – soll genau dies leisten: eine Logik zu schaffen, die reflexive Relationen und Selbstbezüglichkeit nicht als Paradoxien, sondern als strukturbildende Prinzipien behandelt.

 

VII. Fazit: Philosophie an der Grenze zur Technologie

Günther bringt seine zentrale Forderung auf den Punkt: Die Philosophie kann ihre Tiefe nur dann retten, wenn sie ihre technologische Formensprache revolutioniert. Die klassische Logik ist nicht falsch, sondern begrenzt – und diese Grenze ist heute erreicht.

Hegel steht in Günthers Sicht historisch am Übergang: Er sieht die Krise, benennt sie, deutet Wege an – aber er bleibt im Modus der Innerlichkeit. Die Aufgabe der Gegenwart ist es, diesen Übergang logisch zu formalisieren, also ein neues System des Denkens zu entwerfen, das sowohl Tiefsinn als auch Mitteilbarkeit miteinander verbindet.

 

Literaturverweise:

  • Gotthard Günther: Idee und Grundriss einer nicht-Aristotelischen Logik, Felix Meiner Verlag, 1978.

  • Bertrand Russell: Introduction to Mathematical Philosophy, 1919.

  • Jan Łukasiewicz: On Three-Valued Logic, 1920.

  • L. E. J. Brouwer: Intuitionism and Formalism, 1912.

  • Rudolf Carnap: Meaning and Necessity, 1947.

  • Charles S. Peirce: Collected Papers, Vol. 2, „Pragmatism and Pragmaticism“.

  • Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Wissenschaft der Logik.