Das Leben ist...

 

Er hasste es, wenn solche Dinge passierten. Nein, früher hasste er es, wenn solche Dinge passierten. Heute... Heute wusste er, dass solche Dinge nicht von selbst passierten. Er hatte nicht nur ein klein wenig hinter den Vorhang geschaut. Er hatte ihn einfach heruntergerissen. Und was er da sah, das wollte erst einmal verarbeitet werden. Das hatte eine lange Zeit gebraucht. Doch dann machte alles Sinn. Zugegeben, es gab keine Märchen mehr, keine Mythen, nur die nackte, unverschleierte Existenz. Und er war nichts Besonderes mehr. Und doch fühlte er sich nun mächtiger denn je. Seine dunklen Gedanken waren ihm nicht mehr unangenehm, sie gehörten dazu, sie waren weder schlecht noch gut, sie waren einfach da, man konnte sie weder ignorieren noch wegreden. Das war dann wohl dieses Selbsterkennen, das angeblich so wichtig sein sollte. Nur dass damit auch alles andere erkannt war. Wer hätte das gedacht? Gut und Böse waren einfach nur noch lächerliche Kategorien, um die in einem Dauerschlaf Lebenden nicht zu wecken. Erst wenn es notwendig war, wurden sie aus ihrem Dämmerzustand gerissen und waren gezwungen, sich für einen kurzen Moment dem Zusammenbruch ihrer gesamten, eingebildeten Existenz zu stellen, bevor sie endgültig ausgelöscht wurden. Wie sie schrien und jammerten! Worüber? Dass sie ein Leben lang blind vor sich hinexistiert hatten? Zumindest eine Ahnung mussten sie doch gehabt haben. Hatten halt gehofft, dass es immer so weitergehen würde. Ablenkung. Der Leere entgehen. Keine Chance. Arme Bastarde. Nichts anderes als Mastvieh. Der Tag des Abschlachtens rückte unvermeidlich näher. Sollten sie doch wenigstens glauben können, dass das alles für eine gute Sache geschah. Oder dass der Weg ins Paradies nur durch diese schreckliche Pforte zu betreten war. Doch hinter der Pforte war nichts. Es war nicht mal eine Pforte. Für das echte Schlachtvieh begann nun der Verwertungsprozess, doch für sie war es das Ende jenes Verwertungsprozesses, dass sie so gern ihr Leben nannten. Danach gab es nichts mehr. Vielleicht hatten sie ein paar Kinder in die Welt gesetzt, damit der Verwertungsprozess nicht aufhörte. Denn sie waren doch wichtig. So unglaublich wichtig. Warum er darüber eigentlich noch nachdachte? Er tat es ohne den kleinsten Anflug einer Emotion. Er gehörte nicht mehr dazu.

 

(Aus: P.H.‘s „Spiritwalker“, Klangwelt Magazin, 1983)