Kein Text, der eine lineare Argumentation verfolgt oder ein abgeschlossenes Ergebnis bietet. Vielmehr handelt es sich um eine performative Philosophie: Der Text zeigt, was er sagt. Er stellt die sprachliche Ordnung in Frage, unterläuft logische Systeme und parodiert die menschliche Suche nach Bedeutung – und dabei entsteht gerade im scheinbar Unsinnigen ein höherer Sinn.
Regen fällt auf etwas. Ein sehr auffälliges Etwas.
Auffällig oder auffallend?
Auf jeden Fall! Wenn nicht sogar auf alle Fälle.
Und der Trocknungsprozess?
Bis die Felle trocken sind. Was hast du denn gedacht?
Das will mir gerade nicht einfallen.
Vielleicht weil es gerade ist. Geradigkeit ist dem Falle eher weniger gefällig.
Falleri. Fallera.
Falls mir noch etwas dazu einfällt, sage ich dir jedenfalls Bescheid.
Wieso kommt mir das ganze wie eine Ansammlung von merkwürdigen Szenen vor? Wer hat sich das ausgedacht?
Das kann man sich nicht ausdenken. Das bringt es eben so mit sich.
Das hatte ich schon vermutet. Es bringt sich einfach selbst mit. Die einzig vernünftige Erklärung. Genau genommen bringt sich doch jeder selbst mit. Wenn er die Möglichkeit hat, diese nutzt, es ihm keiner verwehrt und es nicht gerade regnet. Denn dann fällt die Sache flach. Und wenn sie einmal flachgefallen ist, dann bleibt sie da liegen. Denn sich selbst mitbringen, ist etwas völlig anderes, als sich selbst aufstellen. Schwierig wird es nur, wenn es sehr eng zugeht. Dann ist das mit dem Flachfallen gar nicht so einfach. Was dann?
Da bin ich überfragt. Ich könnte auch sagen, dass ich darauf keine Antwort weiß, aber ich bin lieber überfragt. Darf ich dir diese Frage überantworten?
Sicher. Letztendlich ist es auch egal, ob es gerade oder ungerade regnet. Bei dieser riesigen Anzahl an Tropfen spielt das doch eh keine Rolle.
Stimmt. Doch bedenklich ist es schon, dass die Hälfte aller Tropfen geradzahlig ist. Ich glaube, die wenigsten sind sich dessen überhaupt bewusst.
Sehe ich auch so. Das ist so wie mit den geradzahligen und den ungeradzahligen Menschen. Zu welcher Sorte gehörst du?
Ich glaube zu den geradzahligen. Obwohl ich lieber zu den ungeradzahligen gehören würde. Den Gedanken, dass ich, zumindest theoretisch, durch zwei teilbar bin, finde ich doch etwas beunruhigend.
Ein schwieriges Thema.
Damit willst du sagen, dass dir dieses Thema unangenehm ist?
Genau das wollte ich sagen.
Warum könnt ihr Ungeradzahligen euch nie einfach ausdrücken?
Ist das so auffällig?
Auffällig oder auffallend?
Meine Augen fallen zu.
Demnach sind sie zufällig? Oder zufallend? Auffällig zufallend oder zufällig auffallend? Oder auffallend zufällig?
Gute Nacht.
Analyse
Der Text „Die Hälfte der Tropfen“ präsentiert sich auf den ersten Blick wie ein dadaistisches Wortspiel oder eine absurde Konversation. Doch unter der Oberfläche verbirgt sich eine feinsinnig strukturierte Reflexion über Wahrnehmung, Bedeutung, Kategorisierung – und nicht zuletzt über das Verhältnis von Sprache, Wirklichkeit und Identität. Im Zentrum steht eine Art „regnerischer“ Gedankenstrom, der humorvoll, aber nicht beliebig, existenzielle Fragen im Gewand sprachlicher Paradoxien verhandelt.
1. Vom Regen in die Sprache: Das Spiel mit dem Tropfen
Der einleitende Satz „Regen fällt auf etwas. Ein sehr auffälliges Etwas.“ ist mehrdeutig: Die Formulierung suggeriert zunächst ein physisches Ereignis, verweist dann aber auf das vage Subjekt „Etwas“, das „auffällig“ ist – also hervorsticht, Aufmerksamkeit verlangt. Die erste semantische Irritation erfolgt unmittelbar: „Auffällig oder auffallend?“ Die Sprache zerlegt sich selbst in ihre Nuancen. Die Frage ist nicht bloß grammatikalisch, sondern ontologisch: Ist das Etwas so beschaffen, dass es auffällt, oder ist es der Prozess des Auffallens selbst? Sprache hier als Mittel, den Blick nicht auf Inhalte, sondern auf Prozesse der Wahrnehmung zu richten.
In dieser Hinsicht erinnert die Textstruktur an Ludwig Wittgensteins Philosophische Untersuchungen (1953), in denen er demonstriert, dass Bedeutung nicht in der bloßen Bezeichnung liegt, sondern im Gebrauch. Der Text stellt also nicht die Frage was das Etwas ist, sondern wie es in Erscheinung tritt.
2. Halbe Tropfen, ganze Systeme: Die Zählung des Zufalls
Ein zentrales Motiv ist die scheinbar absurde Feststellung, dass „die Hälfte aller Tropfen geradzahlig ist.“ Diese Aussage karikiert die menschliche Tendenz zur Ordnung – selbst im Zufälligen wird Struktur gesucht. Der Tropfen, ein Symbol des Chaotischen, Flüchtigen, soll gezählt und klassifiziert werden. Dabei wird der Versuch, in einer von Zufall durchzogenen Welt eine gewisse Rationalität zu erzwingen, satirisch überzeichnet. Wie bei Jorge Luis Borges, dessen Bibliothek von Babel (1941) jeden möglichen Text enthält, wird Ordnung ad absurdum geführt: Der Wille zur Systematisierung kippt ins Surreale.
Diese Form der Zählung erinnert auch an mathematisch-philosophische Paradoxe, etwa das berühmte Hilbertsche Hotel (David Hilbert), das mit unendlich vielen Zimmern immer noch weitere Gäste aufnehmen kann – eine Absurdität, die durch mathematische Logik ermöglicht wird, aber gegen unsere Alltagsintuition verstößt. Genauso erscheinen auch hier die „geradzahligen“ und „ungeradzahligen“ Menschen als Repräsentanten einer ironisch zugespitzten ontologischen Typisierung.
3. Geradzahlige und ungeradzahlige Identitäten
Die Dialogstruktur des Textes entwickelt ein subtiles Spiel mit Identitätskonstruktionen. Die Figuren kategorisieren sich selbst: „Ich glaube, zu den geradzahligen“ – eine Aussage, die rational klingt, aber zugleich irrational bleibt, denn was bedeutet das eigentlich? Die Idee, dass ein Mensch durch zwei teilbar ist, wirkt beunruhigend – fast wie eine Metapher für den Verlust der Ganzheit, oder für die Reduktion der Person auf berechenbare Parameter.
Die Unterscheidung zwischen gerad- und ungeradzahligen Menschen lässt sich auch als Allegorie für normierte und abweichende Lebensformen lesen. Die „geradzahligen“ stehen für Ordnung, Konformität, Reproduzierbarkeit – die „ungeradzahligen“ für Unregelmäßigkeit, Originalität oder sogar Widerständigkeit. Dies erinnert an Michel Foucaults Überlegungen zur Normalisierung in Überwachen und Strafen (1975): Wer zählt, kontrolliert – wer gezählt wird, wird definiert.
4. Ironie, Paradoxie und Sprachskepsis
Wie in vielen Texten des Proemial Blogs liegt der eigentliche philosophische Impuls in der Sprachskepsis. Fragen wie „Auffällig oder auffallend?“, „zufällig auffallend oder auffallend zufällig?“ oder „gerade oder ungerade?“ führen nicht zu einer Klärung, sondern zu einer Desorientierung. Doch genau hierin liegt der erkenntnistheoretische Reiz: Die Sprache dekonstruiert sich selbst und macht so ihre Begrenztheit deutlich. Ganz im Sinne von Jacques Derridas différance: Bedeutung verschiebt sich stets, sie ist nie endgültig fixierbar.
Die wiederkehrenden Meta-Kommentare – „Was dann?“, „Das will mir gerade nicht einfallen.“, „Ich bin lieber überfragt.“ – machen den Text selbstreflexiv. Es ist ein Denken im Denken, das sich seiner eigenen Absurdität bewusst ist, aber genau daraus eine Form von Wahrheit gewinnt – ähnlich wie Albert Camus’ Mythos des Sisyphos: Der Mensch, der erkennt, dass das Leben keinen höheren Sinn hat, ist gerade dadurch frei, es selbst zu gestalten.
Fazit: Philosophischer Leichtsinn mit Tiefe
„Die Hälfte der Tropfen“ ist kein Text, der eine lineare Argumentation verfolgt oder ein abgeschlossenes Ergebnis bietet. Vielmehr handelt es sich um eine performative Philosophie: Der Text zeigt, was er sagt. Er stellt die sprachliche Ordnung in Frage, unterläuft logische Systeme und parodiert die menschliche Suche nach Bedeutung – und dabei entsteht gerade im scheinbar Unsinnigen ein höherer Sinn.
Diese Art der Philosophie, die den Humor nicht als Gegensatz zur Tiefe, sondern als ihr Medium begreift, erinnert an den Stil von Karl Valentin, Loriot oder eben auch an klassische Vertreter der Sprachkritik wie Wittgenstein oder Derrida. Der Text zeigt: Philosophie darf verwirren, darf absurd sein – solange sie dabei die Realität unserer Denksysteme und Begriffsrahmen transparent macht.
Verweise:
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Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen, 1953.
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Derrida, Jacques: La différance, 1968.
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Camus, Albert: Der Mythos des Sisyphos, 1942.
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Foucault, Michel: Überwachen und Strafen, 1975.
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Borges, Jorge Luis: Die Bibliothek von Babel, 1941.