Die Verachtung des Individuums

Der Dialog lässt sich als Plädoyer für eine Ethik der Verantwortung lesen – gegen die bequeme, aber gefährliche Berufung auf überindividuelle Wahrheiten. Das Individuum wird nicht nur als Träger von Rechten verstanden, sondern als schöpferisches, reflexives Wesen, das Welt nicht einfach hinnimmt, sondern sie gestaltet.

Ich sage, in der Höheren Idee liegt das Wahre und Gute. Das Individuum dient dieser Höheren Idee.

 

Mir geht es um die Selbstverwirklichung des Individuums.

 

Dir geht es also nur um dich selbst. Bei mir geht es um die Verbesserung der Situation aller Menschen. Das was du beschreibst, dient nicht der Gemeinschaft, ist nichts wert.

 

Ok, ich ergänze. Selbstverwirklichung jedes einzelnen Individuums, bei gleichzeitigem Schutz des einzelnen Individuums vor einer Beeinträchtigung durch die Selbstverwirklichung anderer Individuen oder Gruppen von Individuen.

 

Wo ist da die Wahrheit? Meine Höhere Idee ist die Wahrheit. Bei dir gibt es nichts Greifbares. Was ist mit Richtig oder Falsch? Außerdem bedeutet das, arm bleibt arm und reich bleibt reich.

 

Das muss es nicht bedeuten. Und eine absolute Wahrheit habe ich nicht zu bieten. Es gibt die Handlungen der Individuen. Wenn bestimmte Handlungen immer wieder Sinn machen, dann ist das eine Wahrheit. Die Individuen schaffen Fakten.

 

Ich denke, die Menschen brauchen eine absolute Wahrheit, eine Wahrheit, die unabhängig vom Individuum ist. Alles andere wäre ungerecht.

 

Möglich, dass die Menschen das brauchen. Macht das Leben vermutlich einfacher. Nur, ist diese absolute Wahrheit im Extremfall nicht auch nur Resultat der Selbstverwirklichung eines einzelnen Individuums oder einer kleinen Gruppe von Individuen? Sind nicht die großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts auch auf den Glauben an absolute Wahrheiten zurückzuführen? Und geht mit der absoluten Wahrheit nicht auch eine Art Selbstaufgabe des Individuums einher?

 

Selbstaufgabe des Individuums. Einem höheren Zweck und dem Wohle der Gemeinschaft dienen. Das ist doch etwas Gutes.

 

Das Gute. Auch eine absolute Wahrheit. Bei mir ist es dem Individuum überlassen, ob es sich selbst in den Dienst einer Höheren Wahrheit stellt. Nur, dass diese Höhere Wahrheit nichts Übergeordnetes ist, sondern, wie schon gesagt, ein Produkt handelnder Individuen. Wenn man sich darüber bewusst ist, wie diese Höhere Wahrheit entstanden ist, dann weiß man auch, dass sie nichts hierarchisch Übergeordnetes ist. Sie ist auch nichts Untergeordnetes, sondern eben ein Resultat.

 

Das versteht doch kein Mensch. Ich sage, es gibt eine Höhere Wahrheit. Diese ist unabhängig vom Individuum, und die Menschen sollen dieser Höheren Wahrheit dienen, weil es ihnen und der Gemeinschaft dann besser gehen wird. Nur die vom Individuum unabhängige Höhere Wahrheit garantiert Gerechtigkeit für alle.

 

Ja, das ist das Problem mit der Gerechtigkeit. Sie geht mit der Verachtung des Individuums einher. Im Zweifelsfall zählt immer die Höhere Wahrheit. Angenommen, dass es allen Menschen gut geht, brauchen sie dann die Höhere Wahrheit eigentlich nicht mehr?

 

Doch, dann brauchen sie sie umso mehr. Denn ein Land von Selbstverwirklichern hat keine Zukunft. Ist das etwa nicht die Wahrheit?

 

Wie schon gesagt, die Wahrheit wird von den handelnden Individuen erst gemacht. Aber ich will nicht unterschlagen, dass es mitunter schwierig ist, die einmal geschaffenen Fakten oder Wahrheiten wieder loszuwerden, obwohl eine Veränderung der äußeren Umstände das eigentlich notwendig machen würde.

 

Ich denke, du hast einem Menschen, der sich für eine höhere Idee aufopfert, nicht viel entgegenzusetzen.

 

Da mach ich mir tatsächlich keine Illusionen. Wenn einer behauptet, er wäre im Besitz der absoluten Wahrheit, was soll man dazu noch sagen. Letztendlich geht es immer um die Verbesserung und Ausweitung der Existenz des Individuums oder der sozialen Gruppen, denen das Individuum angehört. Und wenn es um Ressourcen geht, und das kann alles Mögliche sein, dann gibt es eben Konflikte.

 

Klingt ja echt gefährlich, dein Individuum. Da macht es doch mehr Sinn, mittels einer Höheren Wahrheit, die Aktivität deiner Individuen einzuschränken.

 

Einschränkung ja, doch ist das Kriterium die Existenz der anderen Individuen.

 

Du sprichst jetzt von den Individuen einer bestimmten sozialen Gruppe. Doch was ist mit anderen sozialen Gruppen? Sind die ausgeschlossen?

 

Das müssen die sozialen Gruppen, als große Individuen, unter sich ausmachen. Die Individuen sind für ihr Handeln verantwortlich.

 

Aha!

Analyse

Der vorliegende Dialog ist ein paradigmatisches Beispiel für das Spannungsverhältnis zwischen kollektivistischen Weltanschauungen und individualistischen Ethiken. Zwei Positionen prallen aufeinander: Der eine Gesprächspartner vertritt die Idee einer überindividuellen Wahrheit, der andere argumentiert aus einer Perspektive, die das Individuum in den Mittelpunkt stellt. Der Dialog wirkt wie ein philosophischer Schlagabtausch zwischen einem platonisch inspirierten Idealismus und einem existenzialistisch-pragmatischen Individualismus.

 

1. Die Höhere Wahrheit – Metaphysik als Ordnungsmacht

Die erste Position orientiert sich an der Idee einer „Höheren Wahrheit“, einer objektiven, überindividuellen Ordnung, der sich das Individuum unterzuordnen hat. In dieser Denkweise dient das Individuum nicht um seiner selbst willen, sondern als Funktionsträger innerhalb einer metaphysischen Ordnung. Die Vorstellung erinnert an das platonische Konzept der Ideenwelt, in der das Wahre, Gute und Gerechte unabhängig vom Subjekt existiert – eine ewige Wahrheit, die der menschlichen Welt Orientierung gibt. In der politischen Philosophie ist diese Haltung auch in totalitären Systemen wiederzufinden, die den Einzelnen unter ein „höheres“ Ziel stellen, sei es das Vaterland, die Partei, die Religion oder die Geschichte.

Das zentrale Argument dieser Position lautet: Nur wenn eine unabhängige, höhere Instanz existiert, kann Gerechtigkeit verwirklicht werden. Das Individuum ist dabei stets der potenzielle Störer dieser Ordnung – zu unberechenbar, zu egozentrisch, zu chaotisch. In dieser Sichtweise wird Stabilität durch Einschränkung erreicht. Ein „Land der Selbstverwirklicher“ wird als gefährliches, weil zersplittertes, unorganisierbares Projekt empfunden.

 

2. Das Individuum als Ursprung von Wahrheit und Wirklichkeit

Demgegenüber steht eine Position, die nicht mit einer metaphysischen Letztbegründung operiert, sondern Wahrheit als Resultat sozialer Praxis und individueller Erfahrung versteht. „Die Individuen schaffen Fakten“, heißt es. Wahrheit ist demnach keine ewige Idee, sondern eine historische, relationale und kontextabhängige Konstruktion. Sie entsteht aus dem Zusammenspiel von Handlungen, Bedürfnissen und gegenseitiger Rücksichtnahme.

Diese Sichtweise orientiert sich an einem radikal-subjektiven und prozessualen Begriff von Ethik: Was zählt, ist das Leben, wie es tatsächlich gelebt wird – nicht, wie es gemäß einer vorgestellten Wahrheit sein sollte. Das Kriterium für moralisches Handeln ist dabei nicht die Loyalität gegenüber einer höheren Idee, sondern die Berücksichtigung der Existenz anderer Individuen. In dieser Hinsicht lassen sich Parallelen zu Denkern wie Hannah Arendt oder Emmanuel Levinas ziehen, bei denen das ethische Fundament aus der konkreten Begegnung mit dem Anderen entsteht.

 

3. Der Streit um die Deutungshoheit

Ein zentrales Motiv im Dialog ist die Frage nach der Deutungshoheit: Wer bestimmt, was Wahrheit ist? Der Vertreter der Höheren Wahrheit beansprucht Letztgültigkeit – seine Wahrheit sei unabhängig, überzeitlich und damit objektiv. Doch sein Gegenüber entlarvt diesen Anspruch als Machtinstrument: War es nicht gerade der Glaube an absolute Wahrheiten, der die Katastrophen des 20. Jahrhunderts mit möglich machte? Hier wird eine tiefere Skepsis gegenüber Ideologien und Dogmen sichtbar. Das Individuum, das sich einer absoluten Wahrheit unterwirft, opfert nicht nur sich selbst, sondern auch seine Verantwortung.

Der Dialog zeigt dabei, wie schwer es ist, diese Skepsis argumentativ gegen den Absolutheitsanspruch durchzusetzen: „Wenn einer behauptet, er wäre im Besitz der absoluten Wahrheit, was soll man dazu noch sagen?“ – Der Gesprächspartner erkennt die rhetorische Übermacht des Dogmatischen, das sich jeder Diskussion entzieht.

 

4. Zwischen Gruppeninteressen und universeller Moral

Ein weiterer Aspekt des Dialogs betrifft die Relation zwischen Individuum und Gruppe. Das Individuum wird nicht als isoliertes Wesen verstanden, sondern als Teil eines sozialen Verbandes. Diese Gruppen wiederum – „große Individuen“ – stehen in Wechselwirkung, oft auch in Konkurrenz zueinander. Damit verlagert sich die moralische Verantwortung: Nicht nur das Individuum, auch die sozialen Gruppen selbst sind ethisch accountable.

Hier deutet sich ein pluralistisches Modell an: Es gibt keine übergreifende Wahrheit, sondern ein System sich überlagernder Interessen, das durch Kommunikation, Aushandlung und Kompromiss gesteuert wird. Das birgt zwar das Risiko von Konflikten, verhindert aber autoritäre Vereinheitlichung.

 

Fazit: Freiheit, Verantwortung und das Risiko des Denkens

Der Dialog lässt sich als Plädoyer für eine Ethik der Verantwortung lesen – gegen die bequeme, aber gefährliche Berufung auf überindividuelle Wahrheiten. Das Individuum wird nicht nur als Träger von Rechten verstanden, sondern als schöpferisches, reflexives Wesen, das Welt nicht einfach hinnimmt, sondern sie gestaltet.

Diese Position fordert mehr von uns: Statt uns der Führung einer Höheren Idee zu unterwerfen, müssen wir uns ständig neu fragen, wie wir miteinander leben wollen. Das ist fragil, unsicher – aber eben auch frei. 

Denn, wie der Dialog zeigt: Gerechtigkeit ohne Rücksicht auf das Individuum ist bloß Ordnung. Doch Ordnung ohne Freiheit ist keine Gerechtigkeit.