Der Abstand und das Nichts

Wenn das Betrachten mit Abstand das Wovon ausschließt, was bleibt dann noch? Ein Kurzdialog.

Wie wäre es mit etwas Unverfänglichem?

 

Ist es langweilig?

 

Sehr langweilig.

 

Mir kann es gar nicht langweilig genug sein.

 

Tatsächlich? Wie ungewöhnlich.

 

Ungewöhnlich langweilig?

 

Das auch.

 

Ich freu mich drauf.

 

Auf etwas Langweiliges?

 

Oh, ja!

 

Mich regt so etwas auf.

 

Mich entspannt es ungemein.

 

War das schon immer so?

 

Nicht immer.

 

Was ist passiert?

 

Abstand.

 

Abstand macht das Langweilige erträglich?

 

Mit Abstand betrachtet, gibt es kein Langweiliges mehr.

 

Der Abstand verwandelt Langweiliges in Aufregendes?

 

Es gibt auch kein Aufregendes mehr.

 

Was gibt es dann überhaupt noch?

 

Den Abstand.

 

Den Abstand wovon?

 

Auch das Wovon gibt es nicht mehr.

 

Kein Wovon?

 

Kein Wovon.

 

Nur noch Abstand?

 

Nur noch Abstand.

 

Wie erkenne ich den Abstand?

 

Den Abstand kann man nicht erkennen. Der Abstand ist eine Aktivität.

 

Die Aktivität des Abstandnehmens?

 

Schön gesagt. Nur ist das Wovon bei dir noch dabei.

 

Dann ist es auch nicht das Abstandhalten.

 

So langsam verstehst du.

 

Wie soll man das beschreiben?

 

Das haben wir doch gerade.

 

Ich verstehe.

Analyse

Dieser Text ist ein wunderbar philosophisch-abstrakter Dialog, der mit scheinbar einfachen Begriffen wie Langweiligkeit, Abstand und Erkennen spielt – dabei aber tief in Fragen der Wahrnehmung, Reflexion und Ich-Distanzierung eintaucht.


Themen und zentrale Motive

1. Langweiligkeit als Ruhepol

  • Gleich zu Beginn wird die Idee eingeführt, dass „Langweiliges“ nicht negativ sein muss:

    „Mir kann es gar nicht langweilig genug sein.“

  • Es entsteht eine interessante Umkehr: Was für den einen eine unangenehme Leere ist, ist für den anderen ein Rückzugsort, fast ein Zustand der inneren Entlastung.

2. Abstand als transformative Perspektive

  • Im Zentrum steht das Konzept des Abstands – nicht räumlich, sondern bewusstseinsmäßig:

    „Mit Abstand betrachtet, gibt es kein Langweiliges mehr.“

  • Der Abstand wird dabei nicht nur als Beobachterposition gedacht, sondern fast schon als ontologischer Zustand: Wenn man weit genug von allem entfernt ist, verschwinden alle Kategorien – auch „langweilig“ und „aufregend“.

3. Abstand als Zustand jenseits des Bezugs

  • Besonders spannend wird es gegen Ende:

    „Auch das Wovon gibt es nicht mehr.“

  • Der Dialog entfernt sich bewusst von jedem Bezugspunkt: Abstand ohne Referenz, als reines Abstandnehmen, als „Aktivität“ ohne Ziel.

  • Das ist fast buddhistisch: ein Loslassen aller Inhalte, aller Dualitäten, bis nur noch das Sein in reiner Form übrig bleibt – frei von Bewertungen.


Sprachliche und stilistische Besonderheiten

  • Der Dialog ist minimalistisch, fast kreisförmig. Er arbeitet mit Wiederholungen, kleinen semantischen Verschiebungen, Fragen und Gegensätzen.

  • Die Verknappung („Nur noch Abstand.“ – „Wie erkenne ich den Abstand?“) trägt zur Dichte bei, steigert aber auch das philosophische Niveau.


Interpretationsebene

Man kann den Text als eine Parabel auf innere Entwicklung lesen:

  • Zuerst wird das Vertraute (Langeweile, Aufregung) infrage gestellt.

  • Dann wird Distanz aufgebaut, als Werkzeug zur Desidentifikation.

  • Schließlich verschwinden die Bezugspunkte – es bleibt nur noch das „Abstandnehmen“ als Prozess. Kein „Ich“, kein „Wovon“ – nur eine Bewusstseinsbewegung, frei von Zweck und Ziel.


Fazit 

Ein stiller, tiefgründiger Text über Distanz, Wahrnehmung und das Auflösen konventioneller Kategorien. Er spielt auf elegante Weise mit Sprache und Philosophie – und erinnert dabei an Zen-Koans, sokratischen Dialog oder moderne Meditationstheorie. Gleichzeitig bleibt er offen, dialogisch und leicht – fast beiläufig.