Eine tiefgehende Reflexion über das grundlegende Prinzip lebendiger Existenz – nicht als rein biologisches Phänomen, sondern als dynamisches, offenes Spiel zwischen Expansion, Anpassung und Koordination. Der Autor verbindet biologische, kulturelle und philosophische Dimensionen zu einer These: Leben ist Ausdehnung – räumlich, funktional, kognitiv, sozial – und im Fall des Menschen: sprachlich.
Zweifellos kennen wir uns selbst am besten. Was treibt uns an? Es gibt das Streben nach Erkenntnis, nach Geld, Macht, Glück, Zufriedenheit. Es kann um die Befriedigung ganz elementarer Bedürfnisse gehen, oder um das nackte Überleben. Es geht um die Ausdehnung des Wirkungsbereiches. Das kann territorial sein, das kann durch eine bessere Physis sein, durch bessere Fähigkeiten anzugreifen oder sich zu verteidigen, durch verbessertes Verstehen der Welt, Erfahrungen machen, Kinder in die Welt setzen, durch Übernahme oder Zerstörung von Konkurrenten, Bildung sozialer Gemeinschaften, verbesserte Sinnesorgane, ein verbessertes Nervensystem, Gedächtnis, Sprache, Kultur. Es geht um die Erweiterung und Sicherung der Existenz, der eigenen Existenz als Individuum oder die seiner sozialen Gruppe, sogar um die Existenz der anderen, wenn es hilfreich scheint. Was ist das auffälligste Merkmal der Lebewesen? Ihre Tendenz, sich überallhin auszubreiten, die Ausweitung ihrer Existenz. Denkt man an die Prokaryoten, dann ist die Erde von Lebewesen mehr oder weniger vollständig besiedelt. Und außerhalb der Erde geht es nicht besonders gut voran.
Das Ganze hat etwas von einem Spiel. Und die Spieler haben nur eine grundlegende Eigenschaft. Sie können ihr Verhalten mit anderen Spielern koordinieren. Dadurch entstehen Funktionen auf einer höheren Komplexitätsstufe. Aber warum sollten die Spieler das tun? Sie könnten doch auch mit ihrer Existenz zufrieden sein? Das Problem ist, dass man Kontakt mit den anderen Spielern hat. Und wenn die einem nun auf den Leib rücken? Könnte eng werden. Alles nur wegen Platzmangel? Ist das der Ursprung des ganzen?
Wenn die Möglichkeiten der territorialen Erweiterung erschöpft sind, dass muss man eben andere Wege finden. Erweiterung der individuellen Fähigkeiten. Das ist nachvollziehbar. Die Zunahme der Fähigkeiten der einzelnen Individuen einer Gemeinschaft führt zu mehr Möglichkeiten in der Kommunikation der Individuen, was die soziale Gemeinschaft auf ein deutlich höheres Niveau hebt, was wiederum eine Vergrößerung des Wirkungsbereiches ist. Gleichzeitig bewirkt das Anheben des Niveaus der sozialen Gemeinschaft ein Anheben des Niveaus der Individuen. Das bedingt sich gegenseitig. Die Entstehung der Zivilisationen ist daher nicht überraschend. In einer dichtgedrängten Ansammlung von Individuen muss das einzelne Individuum irgendwie zurechtkommen. Allen ist es zu eng. Man wird seine Handlungen mit denen der Nachbarn koordinieren, um sich ein wenig Luft zu verschaffen. Man ist zur Handlung gezwungen. Um ein grundlegendes Prinzip zu beschreiben, ist es vielleicht besser, sich von Begriffen zu lösen, die mit menschlichen Verhaltensweisen und Vorstellungen zu tun haben. Sprechen wir daher lieber von der Indeterminiertheit des Kommunikationszusammenhanges als grundlegendem Prinzip der Existenz. Diese Indeterminiertheit mit ihren Möglichkeiten ist es, die Phänomene entstehen lassen kann, die wir als Leben, Bewusstsein, Geist, Seele, freien Willen beschreiben. Und der Mensch ist die einzige Lebensform auf der Erde, die mittels Sprache die Möglichkeiten der Kommunikationszusammenhänge ins quasi Unendliche getrieben hat.
Analyse
Einleitung: Vom Überleben zur Selbstüberschreitung
Der Text „Die Ausbreitung des Lebens“ ist eine tiefgehende Reflexion über das grundlegende Prinzip lebendiger Existenz – nicht als rein biologisches Phänomen, sondern als dynamisches, offenes Spiel zwischen Expansion, Anpassung und Koordination. Der Autor verbindet biologische, kulturelle und philosophische Dimensionen zu einer These: Leben ist Ausdehnung – räumlich, funktional, kognitiv, sozial – und im Fall des Menschen: sprachlich. Im Zentrum steht dabei nicht ein einzelnes Ziel (wie Selbsterhaltung oder Reproduktion), sondern ein strukturelles Prinzip: Indeterminiertheit als Voraussetzung für Emergenz.
1. Leben als Spiel: Die Logik der Ausbreitung
„Was ist das auffälligste Merkmal der Lebewesen? Ihre Tendenz, sich überallhin auszubreiten.“
Schon in der Biologie ist Ausbreitung kein bloßes Nebenprodukt evolutionärer Prozesse – sie ist deren zentraler Motor. Lebewesen streben danach, ihren Wirkungsbereich zu vergrößern, sei es durch Fortpflanzung, Bewegung, Kommunikation oder kulturelle Innovation. Diese Perspektive knüpft an Richard Dawkins' Konzept des „egoistischen Gens“ an: Gene (und später auch Memes) drängen zur Replikation, nicht aus Absicht, sondern als Ergebnis natürlicher Selektion.
Was der Text jedoch hinzufügt, ist eine kulturelle und systemische Dimension: Nicht nur Organismen, auch ihre Fähigkeiten, Organisationsformen und Interaktionsmuster breiten sich aus. Der „Spielcharakter“ dieser Dynamik erinnert an Homo ludens von Johan Huizinga, der die kulturelle Evolution als spielerischen Prozess beschreibt – mit Regeln, Gegnern, Strategie und improvisierter Kreativität.
2. Die Emergenz durch Koordination: Von Einzellern zu Zivilisationen
„Sie können ihr Verhalten mit anderen Spielern koordinieren. Dadurch entstehen Funktionen auf einer höheren Komplexitätsstufe.“
Koordination ist der Schlüssel zur Evolution höherer Ordnung. Bereits auf mikrobieller Ebene (etwa in Biofilmen oder Kolonien) ist Kooperation funktional. Synergetik, ein von Hermann Haken entwickelter Begriff, beschreibt diesen Übergang von Einzelteilen zu einem funktionalen Ganzen. Auf sozialer Ebene geschieht Vergleichbares in der Entstehung von Sprache, Kultur, Organisation – Phänomene, die durch individuelle Handlungen nicht allein erklärbar wären.
Der Text betont dabei einen wichtigen Punkt: Die Steigerung der Komplexität auf Gemeinschaftsebene wirkt zurück auf das Individuum – eine wechselseitige Bedingtheit. Dies korrespondiert mit Niklas Luhmanns Systemtheorie, nach der soziale Systeme durch Kommunikation reproduziert werden und dabei individuelle Handlungsspielräume beeinflussen.
3. Vom Platzmangel zur Sprachwelt: Der Mensch als „offenes System“
„Wenn die Möglichkeiten der territorialen Erweiterung erschöpft sind, dann muss man eben andere Wege finden.“
Diese Beobachtung ist nicht nur ökologisch und historisch relevant (man denke an Stadtentwicklung, Kolonialisierung oder Digitalisierung), sondern auch anthropologisch grundlegend: Wo physische Expansion an Grenzen stößt, erfolgt innere Expansion – etwa durch Technologie, geistige Fähigkeiten oder soziale Differenzierung.
Im Menschen findet dieser Wandel seinen Höhepunkt in der Sprache. Durch sie ist der Mensch in der Lage, komplexe Kommunikationszusammenhänge ins Unendliche auszudehnen – ein Gedanke, der an Ernst Cassirers Theorie vom Menschen als animal symbolicum erinnert: Der Mensch existiert nicht bloß in einer Welt, er schafft sich seine Welt durch Symbole.
4. Indeterminiertheit als Prinzip
„Sprechen wir daher lieber von der Indeterminiertheit des Kommunikationszusammenhanges als grundlegendem Prinzip der Existenz.“
Hier kulminiert die Argumentation in einer erkenntnistheoretischen Tiefenschicht: Nicht Zielgerichtetheit, sondern Offenheit ist der Ursprung der lebendigen Welt. Die Indeterminiertheit – also das Fehlen einer festgelegten Ordnung – ermöglicht die Emergenz neuer Formen, Bedeutungen, Systeme.
Dieser Gedanke steht in der Nähe von Gilles Deleuzes Konzept der „Differenz“ als produktiver Kraft und Prigogines Theorie dissipativer Strukturen, bei denen Ordnung aus dem Chaos entsteht. Leben ist demnach nicht etwas, das „ist“, sondern etwas, das entsteht, weil es nicht festgelegt ist – ein ständiges Überschreiten des Bestehenden.
5. Der Mensch als Radikalisierung des Lebensprinzips
„Der Mensch ist die einzige Lebensform auf der Erde, die mittels Sprache die Möglichkeiten der Kommunikationszusammenhänge ins quasi Unendliche getrieben hat.“
Sprache ist nicht nur ein Werkzeug – sie ist die Öffnung des Menschen zur unendlichen Variabilität seiner selbst. Sie erlaubt das Erfinden neuer Bedeutungen, Realitäten, Identitäten. So ist der Mensch nicht nur Teil der Evolution, sondern gestaltet sie mit – im Sinne von Kultur, Technik, Ethik und Weltgestaltung. Das ist nicht bloß ein Fortschritt, sondern ein Sprung: Vom biologischen zum semantischen Leben.
Der französische Philosoph Michel Serres spricht in diesem Zusammenhang vom „Übergang vom Biologischen ins Symbolische“ – und damit in eine Welt, in der sich das Leben selbst durch Bedeutung transformiert.
Fazit: Leben als Ausdehnung von Möglichkeiten
Der Text „Die Ausbreitung des Lebens“ zeichnet ein dynamisches, offenes, fast spielerisches Bild des Lebens: Nicht als Zweckgebundenheit, sondern als konstante Bewegung in Richtung höherer Komplexität und Integration. Dabei ist der Mensch nicht Endpunkt, sondern radikale Weiterentwicklung des Prinzips, das Leben ausmacht: Indeterminiertheit, Koordination, Emergenz.
Was sich zunächst wie eine biologische Betrachtung liest, wird zu einem existenzphilosophischen Entwurf: Leben ist nicht nur Überleben, sondern Sinnproduktion – und damit immer auch Risiko, Freiheit und kreative Spannung.
Weiterführende Literatur und Bezüge:
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Richard Dawkins – The Selfish Gene
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Niklas Luhmann – Soziale Systeme
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Gilles Deleuze – Differenz und Wiederholung
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Ernst Cassirer – Philosophie der symbolischen Formen
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Michel Serres – Der Parasit
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Hermann Haken – Synergetik – Einführung in die Theorie selbstorganisierender Systeme
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Ilya Prigogine – Ordnung aus dem Chaos