Begriffsvortrag

Wenn wir Begriffe nur noch benutzen, ohne sie zu reflektieren, wird Philosophie zum hohlen Ritual. Die Gefahr liegt nicht im Denken selbst, sondern in seiner Automatisierung durch Sprache. Der Text warnt uns – in aller Komik und Selbstironie – davor, die Begriffe, mit denen wir denken, nicht mehr zu denken.


Sehr geehrte Zuhörer!

 

Mit diesem Vortrag werden wir einige wichtige Begriffe ins Spiel bringen. Schlagkräftige Begriffe. Das sind ja nicht einfach Wörter. Mit dem Begriff 'Begriff', oder vielmehr dem Wort 'Begriff', wird doch viel zu leichtfertig umgegangen. 'Begriff' macht aber auch viel mehr her. Ob wirklich etwas begriffen wurde, steht auf einem anderen Blatt. Oder man sagt 'Begrifflichkeiten'. Das ist noch besser. Gut, belassen wir es dabei und bringen mit dem Wort 'Philosophie' den Begriff der Philosophie ins Spiel. Ein sehr guter Begriff. Interessanterweise wird oft auf die Bestandteile des Wortes zurückgegriffen und was sie in der Muttersprache bedeuten, um den Begriff verständlich zu machen. Ob das hilft, sei dahingestellt. Übrigens, wer hat es gemerkt? 'Zurückgegriffen'? Alles sehr greiflastig in diesem Vortrag. Was nicht heißen muss, dass das auch der Schwerpunkt dieses Vortrags sein wird. 'Philosophie' hatten wir schon genannt. Was wären weitere geeignete Kandidaten? Vielleicht etwas, das dem Zeitgeist entspricht? Das war zugegebenermaßen eine Fangfrage. Wer versucht, dem Zeitgeist zu entsprechen, hat schon verloren. Idealerweise wählt man Wörter für Begriffe, die nie so richtig verschwunden sind, diejenigen, von denen man glaubte, oder hoffte, sie ein für alle mal losgeworden zu sein, die aber immer wieder auftauchen, nicht totzukriegen sind, einfach weil es Begrifflichkeiten (jetzt haben wir das auch mal verwendet) sind, die man nicht einfach los wird, indem man das Wort los wird. Ich bin mir nicht sicher, ob 'Metaphysik' so ein Kandidat ist, vielleicht versuchen wir es einfach mal. Metaphysik! Gut, jetzt haben wir Philosophie und Metaphysik verwendet. Ein drittes sollte es aber schon noch sein, denn wir wollen das Dritte keinesfalls ausschließen. Das könnte übrigens ein Hinweis auf einen späteren Vortrag sein. Welcher genau es werden wird, ist noch nicht vollkommen klar, denn auch mit der Klarheit ist das immer so eine Sache. Vielleicht Vortrag Nummer Acht? Gegenstimmen? Keine? Gut, bis auf weiteres wird es in Vortrag Acht um das ausgeschlossene Dritte gehen. Doch sind wir im Moment noch nicht soweit. Noch sind wir bei diesem Vortrag hier, der uns viel Freude bereitet, vor allem wegen seiner vielen Bezüge zu anderen Vorträgen. Das ist auf jeden Fall eine seiner Stärken. Und es kommen wichtige Begriffe in diesem Vortrag vor, schlagkräftige Begriffe, markiert durch schlagkräftige Wörter. Doch genug der verbalen Schlägereien. Uns fehlt immer noch der dritte Begriff. Eine endgültige Entscheidung muss gefällt werden. Hier und jetzt und in diesem Vortrag. Ist das Wort gesprochen, dann existiert es. Dann ist es in der Welt, möglicherweise, und wer weiß, wo noch überall. Wir sollten gar nicht so lange darüber nachdenken, es hängt eh nichts Wichtiges davon ab, daher entscheiden wir uns hier und jetzt für 'Ontologie'. Da das somit erledigt wäre, können wir endlich fortfahren und uns Gedanken darüber machen, oder versuchen uns zu erinnern, aus welchem Grund wir eigentlich diese drei immens wichtigen Wörter für drei immens wichtige Begriffe hier in diesem Vortrag unterbringen wollten. Es hatte vermutlich einen richtig guten Grund, und wenn dieser Grund wirklich so gut war wie wir annehmen, aber auch hoffen, dann wird er uns vermutlich auch wieder einfallen. Es sei denn, wir leiden noch an den Nachwirkungen des letzten Vortrags. Wer sich erinnern kann, es ging um Gedächtnisschwund, womit wieder ein Bezug zu einem anderen Vortrag hergestellt wäre. Dieser Vortrag hier hat es wirklich in sich, auch wenn im Moment keiner mehr weiß, warum und weshalb. Doch das tut nichts zur Sache. Entscheidend ist das gute Gefühl und die Freude, die man hat. Diese Freude war in den vorangegangenen Vorträgen bei weitem nicht so ausgeprägt. Jedenfalls hat es den Anschein. Dieser Eindruck könnte aber auch täuschen, einfach auf Grund der Tatsache, dass die anderen Vorträge zur Vergangenheit gehören, was ja auch auf einen Großteil dieses Vortrags zutrifft. Gefragt ist die objektive Meinung! Und siehe da, gleich zwei Wörter für Begriffe, denen wir keinesfalls eigene Vorträge widmen werden. Objektiv und Meinung? Nein, wir bleiben weiterhin bei Philosophie, Metaphysik und Ontologie. Auch wenn wir vielleicht nicht wissen, warum wir unsere drei Begriffe überhaupt ins Spiel gebracht haben, so haben wir doch zumindest eine mögliche Anwendung gefunden, nämlich die Abwehr der uns unliebsamen Wörter und Begriffe. Das bedeutet aber auch, dass wir nun doch Gefahr laufen, in einen verbalen Schlagabtausch verwickelt zu werden, was wir ja vermeiden wollten. Andererseits muss man sich auch wehren können. Und mal ganz ehrlich. Objektivität? Das ist geradezu eine Aufforderung zur Sophisterei! An dieser Stelle, vermutlich haben die meisten schon damit gerechnet, oder sogar darauf gewartet, der Bezug zu einem der ersten Vorträge. Dieser Vortrag hier ist einfach unschlagbar, was das angeht. Richtig! Wir schlagen zurück mittels einer dieser angesprochenen großen Fragen. Was soll das denn sein, Objektivität? Damit ist der Streit vom Zaun gebrochen. Auch das muss mal sein, obwohl uns tiefgreifende Diskussionen lieber wären. Gut. Was auf gar keinen Fall passieren darf, ist, dass wir uns in irgendwelchen Begrifflichkeiten verlieren. Das kommt leider viel zu häufig vor. Das einzige was hier hilft, ist das Rekapitulieren des vorletzten Vortrages, denn, und das soll hier nicht verschwiegen werden, bei aller Liebe zu diesem Vortrag, dieser ist gleichzeitig auch der gefährlichste! Denn hier werden das erste Mal Begriffe positiv besetzt, und bei zu geringer Distanz zu diesen, besteht tatsächlich die Möglichkeit, diese nur noch unreflektiert zu gebrauchen, was wiederum ermöglicht und erleichtert wird durch die Verwendung des Wortes für den Begriff, also eines Symbols, welches durchaus dazu geeignet ist, den Begriff zu vergessen und nur noch mit dem Symbol zu operieren! Das klingt unglaublich, nahezu absurd, und doch wird es praktiziert! Mit diesem Blick in einen Abgrund ohne jegliche Tiefe beenden wir an dieser Stelle diesen Vortrag und wünschen weiterhin viel Spaß mit Worten und Begriffen. Bis demnächst. Gute Nacht!

Analyse

 

1. Einleitung: Worte, die Begriffe tragen – oder auch nicht

Der Text „Begriffsvortrag“ ist eine satirisch-philosophische Reflexion über den Umgang mit Begriffen – und das Mittel, mit dem diese Reflexion betrieben wird, ist zugleich ihr Gegenstand: die Sprache selbst. Mit ironischer Distanz und rhetorischer Selbstverstrickung stellt der Text die Frage nach der Bedeutung, Funktion und Fallhöhe von Begriffen – insbesondere in einem philosophischen Kontext. In seiner formalen Gestaltung erinnert er an die sprachspielerische Dialektik Wittgensteins, inhaltlich lässt er sich als eine Dekonstruktion der Begriffsarbeit im philosophischen Diskurs lesen.

Dabei geht es weniger darum, bestimmte Begriffe zu klären, als vielmehr um die Problematik ihrer Verwendung: Wie wird ein Begriff überhaupt ins Spiel gebracht? Was passiert, wenn wir mit Symbolen hantieren, ohne uns der Begriffe dahinter noch bewusst zu sein? Und ist Philosophie selbst in der Lage, diese Sprachverwirrung zu durchschauen – oder ist sie längst Teil davon?

 

2. Die performative Selbstreflexion des philosophischen Vortrags

Schon die Einleitung des Textes – „Sehr geehrte Zuhörer!“ – setzt auf die Illusion einer realen Vortragssituation, die sich sofort ins Absurde wendet. Der Vortragende kündigt an, wichtige Begriffe ins Spiel zu bringen – „schlagkräftige Begriffe“ – und entfaltet dann kein konsistentes Argument, sondern eine Art philosophisches Kabinettstück, das sich an der Oberfläche der Sprache entlanghangelt, ohne je in ihren Grund vorzudringen – und genau dadurch die Tiefe des Problems offenlegt.

„Mit dem Begriff 'Begriff', oder vielmehr dem Wort 'Begriff', wird doch viel zu leichtfertig umgegangen.“

Diese Differenzierung zwischen Wort und Begriff ist zentral. Sie erinnert an Gottlob Frege, der zwischen dem Zeichen, der Bedeutung (Sinn), und der Referenz unterscheidet. Der Text spielt mit der Idee, dass Worte und Begriffe leicht verwechselt oder gleichgesetzt werden, obwohl sie fundamental verschieden sind. Diese Verwechslung, so wird angedeutet, sei nicht nur ein Problem des Alltags, sondern durchziehe die gesamte Philosophiegeschichte – und werde von dieser zugleich perpetuiert.

 

3. Philosophie, Metaphysik, Ontologie – Drei Worte, viele Fragen

Als „schlagkräftige Begriffe“ werden im Text die Begriffe Philosophie, Metaphysik und Ontologie ins Spiel gebracht. Doch statt sie systematisch zu analysieren, führt der Text sie spielerisch, assoziativ, beinahe beliebig ein:

„Wir sollten gar nicht so lange darüber nachdenken, es hängt eh nichts Wichtiges davon ab.“

Die Ironie ist offenkundig: Natürlich hängt „alles“ an der Begriffswahl – zumindest in der Philosophie, deren Geschäft die Unterscheidung und Klärung von Begriffen ist. Doch der Vortrag verweigert sich genau dieser Klarheit. Stattdessen bringt er Begriffe wie „Philosophie“ in den Vordergrund, um sie gleichzeitig zu unterlaufen – etwa durch den Hinweis, dass die Herleitung aus dem Altgriechischen („Liebe zur Weisheit“) womöglich gar nichts hilft. Der Text schlägt hier in die gleiche Kerbe wie Richard Rorty, der die klassische Begriffsontologie der Philosophie als überholt ablehnt und die Sprache selbst in den Vordergrund stellt (Philosophy and the Mirror of Nature, 1979).

Mit „Ontologie“ wird schließlich der vielleicht fundamentalste Begriff der Philosophie eingeführt – das Denken des Seins. Doch anstatt eine ontologische Analyse zu leisten, bringt der Vortrag die Begriffsverwendung selbst ins Wanken, indem er fragt, warum wir überhaupt bestimmte Begriffe verwenden – und ob das Verwenden von Begriffswörtern nicht sogar dazu führt, die dahinterstehenden Begriffe zu vergessen.

 

4. Symbolische Entleerung – Wenn das Wort den Begriff ersetzt

Die zentrale Warnung des Textes liegt in einem fast beiläufig formulierten Gedanken, der jedoch hohe philosophische Sprengkraft birgt:

„... bei zu geringer Distanz [...] besteht tatsächlich die Möglichkeit, diese nur noch unreflektiert zu gebrauchen, was wiederum ermöglicht und erleichtert wird durch die Verwendung des Wortes für den Begriff.“

Hier wird eine Sprachkritik formuliert, die an den späten Wittgenstein erinnert: Sprache kann uns täuschen, wenn wir Begriffe nicht mehr durchdringen, sondern nur noch mit den Symbolen operieren. Ein Wort wie „Ontologie“ kann als leere Hülse fungieren, ein „Platzhalter“ in akademischen Diskursen, der vorgibt, Tiefe zu besitzen, wo keine mehr ist. Der Text fordert damit eine Rückkehr zu echter Begriffsarbeit – nicht als metaphysisches Projekt, sondern als kritische Praxis der Reflexion über Sprache selbst.

 

5. Ironie, Selbstreferenz und der Ernst des Spiels

Der Text ist durchzogen von Selbstreferenzen auf andere Vorträge (z. B. über Gedächtnisschwund oder das „ausgeschlossene Dritte“) und auf die eigene Struktur („dieser Vortrag hier hat es wirklich in sich“). Diese Ironisierung philosophischer Ernsthaftigkeit ist nicht bloß ein Stilmittel, sondern Teil der philosophischen Aussage: Die Unmöglichkeit, über Begriffe zu sprechen, ohne sie zugleich zu verrätseln, wird nicht beklagt, sondern dargestellt – der Text zeigt, was er sagt.

Diese Strategie erinnert an Søren Kierkegaards pseudonyme Schriften, die unter dem Deckmantel der Ironie tiefe existentielle Wahrheiten andeuten, ohne sie je ausdrücklich zu machen. Auch hier wird Philosophie zur Inszenierung, zur performativen Kritik an der Philosophie selbst.

 

6. Fazit: Der gefährlichste Vortrag

Der Text selbst bezeichnet sich ironisch als „der gefährlichste Vortrag“, denn:

„Hier werden das erste Mal Begriffe positiv besetzt [...] was wiederum ermöglicht [...] nur noch mit dem Symbol zu operieren!“

Dies ist der zentrale Gedanke des Essays: Wenn wir Begriffe nur noch benutzen, ohne sie zu reflektieren, wird Philosophie zum hohlen Ritual. Die Gefahr liegt nicht im Denken selbst, sondern in seiner Automatisierung durch Sprache. Der Text warnt uns – in aller Komik und Selbstironie – davor, die Begriffe, mit denen wir denken, nicht mehr zu denken.

 

Weiterführende Verweise:

  • Gottlob Frege: Über Sinn und Bedeutung – Unterscheidung von Zeichen, Sinn und Referenz

  • Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen – Sprache als Gebrauch, nicht als Abbild

  • Richard Rorty: Philosophy and the Mirror of Nature – Kritik an der Begriffsontologie

  • Søren Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode (unter Pseudonym) – Ironie und indirekte Mitteilung

  • Jacques Derrida: La différance – Bedeutung als zeitlich differente Verschiebung im Sprachsystem