Botenstoff

Ein kleines Meisterwerk der philosophischen Sprachkomik. Der Text dekonstruiert spielerisch den vermeintlich neutralen Akt des „Angebots“ und zeigt, wie tiefgreifend sprachliche Konstruktionen unsere Handlungskonzepte, Rollenverteilungen und Wertungen prägen. In der Figur des Boten, der „botet“, spiegelt sich das Funktionieren moderner Informationssysteme – seelenlos, effizient, entscheidungsentlastet.

Ich nehme an...

 

Das ist gut, dass du annimmst. Was nützt das Abgeben, wenn keiner annimmt? Ich kann das beste Angebot abgeben... Moment! Wieso heißt es 'Angebot' aus der Sicht des Abgebers? Das ist doch falsch! Ist das noch keinem aufgefallen? Nur aus der Sicht des Annehmers, oder auch nicht-Annehmers, wer weiß das schon, handelt es sich um ein Angebot, das er dann annehmen oder auch nicht annehmen kann. Auch der Sicht des Abgebers handelt sich um ein Abgebot. Etwas wird zur Abgabe abgeboten und aus der Sicht des Annehmers angeboten. Perfekt wäre es, wenn der Abgeber das Abgebot tatsächlich einem Boten mitgeben würde, aus stilistischen Gründen würde man einen berittenen Boten wählen, wobei nicht wirklich der Bote beritten wird, vielmehr wird das Pferd vom Boten beritten, weshalb es sich eher um einen reitenden Boten handelt, doch das nur nebenbei. Also nochmal. Der Abgeber übergibt das Abgebot einem reitenden Boten, das dieser dem Angeber, falsch, dem Annehmer überreicht, wodurch der Annehmer sich mit dem Angebot konfrontiert sieht und eine Entscheidung treffen muss. Schickt der vermeintliche Annehmer, der nun doch keiner zu sein scheint, das Angebot an den Abgeber zurück, wird der Annehmer selbst zum Abgeber, was natürlich Unsinn ist, da man nur Abgeber sein kann, wenn man zuvor etwas hatte. Vielmehr wird in diesem Fall der potentielle Annehmer zum Ablehner, und anschließend vielleicht sogar zum Zurücklehner. Am einfachsten stellt sich die ganze Sache aus der Sicht des Boten dar. Der ist einfach nur unterwegs und kümmert sich aus einem Entscheidungsblickwinkel heraus kein bisschen um Annahmen, Angebote, Abgebote und Abnahmen. Für ihn steht alles fest. Wenn das passiert, dann tue das, und wenn dieses passiert, eben jenes. Damit hat der Bote aus Sicht von Abnehmer und Abgeber keinen indiuviduellen Handlungsspielraum. Der Bote muss schlicht funktionieren, oder anders ausgedrückt, er muss boten. Denn das Boten ist des Boten. Diese krasse Funktionalisierung des Botendaseins macht es möglich, über eine Mechanisierung und Automatisierung nachzudenken, unter Berücksichtigung der wesentlichen Botenregeln. Es gibt auch noch weitere interessante sprachliche Aspekte. Hast du zum Beispiel schon einmal davon gehört, dass man ein Paket 'aufgeben' kann? Ist das nicht eine merkwürdige Beschreibung? Wieso sollte man aufgeben?

 

Keine Ahnung. Doch mach ich das jetzt einfach mal. Gute Nacht.

Analyse

Der Text „Botenstoff“ eine sprachphilosophische Miniatur, die mit spielerischer Ernsthaftigkeit grundlegende Fragen zur Bedeutung von Sprache, Kommunikation und Handlung untersucht. Ausgehend von der harmlos wirkenden Wendung „Ich nehme an…“ entfaltet sich ein absurd-humorvoller Diskurs über das Verhältnis von Sender, Empfänger und dem Vehikel dazwischen: dem Boten. Die Betrachtung changiert zwischen etymologischer Tiefenbohrung, kommunikationsphilosophischer Reflexion und einer parodistischen Kritik an funktionaler Rationalität.

 

1. Die Semantik des Angebots: Vom Abgebot zum Sprachspiel

Im Zentrum der Reflexion steht das Wortpaar „Angebot/Abgebot“, das durch eine scheinbar harmlose Asymmetrie zum Ausgangspunkt einer konzeptuellen Dekonstruktion wird. Der Sprecher fragt:

„Wieso heißt es 'Angebot' aus der Sicht des Abgebers? Das ist doch falsch!“

Was hier mit komischer Schärfe aufgedeckt wird, ist ein klassischer Fall sprachlicher Perspektivenverzerrung: Die Benennung eines kommunikativen Akts folgt nicht der Perspektive des Akteurs (des Gebenden), sondern des potenziellen Adressaten. Dies ist nicht nur eine linguistische Kuriosität, sondern offenbart, wie Sprache soziale Wirklichkeiten strukturiert und naturalisiert – ein Gedanke, den Pierre Bourdieu in Ce que parler veut dire (1982) grundlegend formulierte: Sprache ist nie neutral, sondern Ausdruck und Instrument sozialer Machtverhältnisse.

Das humorvolle „Abgebot“ ist somit mehr als ein Wortspiel – es ist eine semantische Intervention, die den Fokus zurück auf den Ursprung der Handlung lenkt. Das Spiel mit „Angeber“, „Annehmer“, „Ablehner“ und schließlich „Zurücklehner“ zeigt dabei, wie Sprache Bedeutungen nicht nur trägt, sondern durch grammatikalische Ketten neue Bedeutungsebenen erzeugt.

 

2. Der Bote als Figur des Nicht-Handelns

In der Figur des Boten bündelt sich die zentrale Idee des Texts: Die Kommunikation als ein Akt ohne Entscheidung, ohne Verantwortung, ohne Sinn – außer der reinen Übermittlung:

„Der Bote muss schlicht funktionieren, oder anders ausgedrückt, er muss boten. Denn das Boten ist des Boten.“

Diese fast tautologische Definition erinnert an die funktionale Rollentheorie bei Erving Goffman (The Presentation of Self in Everyday Life, 1956): Der Bote ist nicht Person, sondern Rolle – ein Subjekt, das in seinem Funktionieren aufgeht. Er entscheidet nicht, wertet nicht, er transportiert. Damit steht der Bote für eine mechanisierte Kommunikationsform, eine Art frühe Skizze des Algorithmus: „Wenn A, dann B.“

In der gegenwärtigen Welt der automatisierten Informationsverarbeitung – E-Mail-Server, Chatbots, Push-Nachrichten – wirkt diese Figur geradezu prophetisch. Der Bote wird zur Metapher für systemische Kommunikation, wie sie Niklas Luhmann versteht: Nicht Menschen kommunizieren, sondern Systeme erzeugen Anschluss durch Mitteilung und Verstehen – wobei der Mensch als Person darin oft verschwindet.

 

3. Sprachspiele, Körperbilder, Übertragungsironie

Die Konstruktion eines „reitenden Boten“, der „nicht beritten wird, sondern das Pferd reitet“, bringt nicht nur eine klassische komische Verdrehung hervor, sondern dekonstruiert auch beiläufig sprachliche Metaphern, die in ihrer Alltäglichkeit selten hinterfragt werden. Die Metareflexion auf solche Formulierungen ist ein bekanntes Mittel der Philosophischen Sprachkritik, wie sie etwa bei Ludwig Wittgenstein in den Philosophischen Untersuchungen (1953) erscheint: Bedeutung entsteht durch Gebrauch, nicht durch Definition – und dieser Gebrauch ist oft voller inkonsistenter Bilder.

Das scheinbar banale Beispiel des Pakets, das man „aufgibt“, führt diese Linie fort:

„Hast du zum Beispiel schon einmal davon gehört, dass man ein Paket ‚aufgeben‘ kann? […] Wieso sollte man aufgeben?“

Was hier als Spielerei erscheint, zielt auf einen zentralen Punkt: Unsere Sprache enthält semantische Reste alter Bedeutungsfelder, die in modernen Kontexten unreflektiert übernommen werden. Die „Aufgabe“ eines Pakets wird zur impliziten Kapitulation – eine komische, aber zugleich erkenntnisfördernde Ambivalenz, die uns zeigt, wie sinnentleert funktionalisiert viele Kommunikationsvorgänge heute sind.

 

4. Der Rückzug in den Schlaf: Schlussfolgerung oder Kapitulation?

Das abrupt-lakonische Ende –

„Keine Ahnung. Doch mach ich das jetzt einfach mal. Gute Nacht.“
– entzieht sich der Erwartung eines Diskurses. Es ist ein ironischer Rückzug, der die Unmöglichkeit demonstrativer Reflexion angesichts sprachlicher Absurditäten pointiert. Dieser Schritt verweist zurück auf eine Form des Existenzialismus à la Camus (Le Mythe de Sisyphe, 1942): Wenn die Welt in ihrer semantischen Struktur weder konsistent noch kohärent ist, bleibt nur der absurde Akt des Weiterlebens – oder hier: des Einschlafens.

 

Fazit: Sprachkritik mit Humor und Tiefgang

„Botenstoff“ ist ein kleines Meisterwerk der philosophischen Sprachkomik. Der Text dekonstruiert spielerisch den vermeintlich neutralen Akt des „Angebots“ und zeigt, wie tiefgreifend sprachliche Konstruktionen unsere Handlungskonzepte, Rollenverteilungen und Wertungen prägen. In der Figur des Boten, der „botet“, spiegelt sich das Funktionieren moderner Informationssysteme – seelenlos, effizient, entscheidungsentlastet. Doch zugleich bleibt im Text immer auch ein subversiver Witz lebendig – ein anarchischer Zweifel an den ernst gemeinten Kategorien des Sagbaren.

 

Weiterführende Literatur:

  • Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen, 1953.

  • Bourdieu, Pierre: Ce que parler veut dire (Was heißt Sprechen?), 1982.

  • Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997.

  • Goffman, Erving: The Presentation of Self in Everyday Life, 1956.

  • Camus, Albert: Le Mythe de Sisyphe, 1942.