Distanz und Verlust

 

So lange schon hatte er darauf verzichtet, sein Leben auf ein ideales Ziel zu richten, hatte es vielmehr so ganz auf eine Abfolge von täglich sich erneuernden Befriedigungen abgestellt, dass er, ohne es sich jemals ausdrücklich zu sagen, die Meinung hegte, es werde bis zu seinem Ende immer so weitergehen; ja mehr noch: da er sich im Geiste nicht mehr mit großen Gedanken beschäftigte, hatte er aufgehört, an ihre Realität zu glauben, ohne dass er sie geradezu leugnete. So hatte er die Gewohnheit angenommen, sich in nichtssagende Gedanken zu flüchten, bei denen er den Dingen nicht auf den Grund zu gehen brauchte. Ebenso wie er sich einerseits nicht fragte, ob er vielleicht besser daran getan hätte, sich nicht so völlig der Gesellschaft zu verschreiben, andererseits aber mit Sicherheit wusste, dass er, wenn er eine Einladung angenommen hatte, unbedingt auch hingehen und dass er, wenn er einen Besuch nicht machte, hinterher wenigstens seine Visitenkarte abgeben müsse, so bemühte er sich auch in der Unterhaltung, niemals mit innerer Anteilnahme eine Meinung über die Dinge auszusprechen, sondern nur sachliche Einzelheiten beizusteuern, die für sich selbst sprachen und ihm erlaubten, sich über seine Person selbst auszuschweigen. Er war überaus genau, wenn es sich um ein Kochrezept oder das Geburts- und Todesjahr eines Malers oder den Katalog seiner Werke handelte. Manchmal ließ er sich trotz allem so weit gehen, eine Meinung über ein Werk oder eine Lebensauffassung zu äußern, aber er tat es dann in ironischem Ton, so als stehe er eigentlich nicht ganz zu seinen Worten.

 

(Aus: M. Proust, „Eine Liebe Swanns“, 1913)