Im Text dekonstruiert P.H. auf humorvolle, fast liebevolle Weise das moderne Subjekt: überfordert von seiner Freiheit, fasziniert vom eigenen Denken, gelähmt von der Bedeutungslosigkeit jeder Entscheidung. Es ist ein zutiefst philosophischer Text, der sich der Sprache des Absurden bedient, um das existentielle Dilemma unserer Zeit aufzuzeigen.
Neulich im Strandkorb, vorbeiziehende Kaffaristen. Blickte nach oben. Nichts. Schaute nach links. Die übliche Ansammlung von Nagetierresten. Kein Grund aufzustehen. Waren immer noch weit genug weg. Avanti Kaffaristi! Kratzte mir den Bauch. Müsste gleich Mitternacht sein. Fernes Donnergrollen. Aufstehen oder nicht aufstehen? Schwierige Entscheidung. Könnte einiges davon abhängen. Abhängen! Ob die anderen noch bleiben? Mmh... Nochmal den Bauch kratzen. Oh Kraft, die du so schwer auf mir lastest! Hab noch gar nicht nach rechts geschaut. Wie konnte ich das vergessen? Ich vergesse doch nie etwas. Soll ich wirklich? Immer diese Entscheidungen. Vielleicht bewege ich nur ein bisschen die Augen. Den ganzen Kopf nach rechts zu drehen, scheint mir bei Nacht doch recht übertrieben. Oder eine Kombination aus Augen und Kopf? Wäre ein Kompromiss. Ich hasse Kompromisse. Warum überhaupt nach rechts schauen? Nur weil ich nach links geschaut habe? Dieses Bedürfnis nach Symmetrie. Das ganze blöde Universum mit seiner Symmetrie. Vermutlich muss jemand anders seinen Kopf nach rechts drehen, wenn ich es nicht tue. Oder hat es schon jemand getan? Wenn ich nun den Kopf nach rechts drehen würde, im Glauben, dass ich so die Symmetrie des Universums wiederherstellen müsste, es aber schon jemand getan hat, was dann? Wer versteht schon das Universum. Verdammte Kaffaristen! Könnten sich ruhig ein wenig beeilen. Nehmen mir die ganze Sicht. Zum Glück ist es dunkel, und es gibt eh nichts zu sehen. Mal schauen, was als nächstes passiert...
(Aus: P.H.‘s „Neussy Rock“, Klangwelt Magazin, 1983)
Analyse
P.H.s Text „Dunkle Symmetrie“ wirkt auf den ersten Blick wie ein absurder innerer Monolog – ein gelangweilter Strandkorbbewohner sinniert über Donnergrollen, Kaffaristen und die Frage, ob er den Kopf nach rechts drehen soll oder nicht. Doch gerade in dieser scheinbaren Belanglosigkeit liegt eine tiefe, existenzphilosophische Reflexion über Freiheit, Entscheidung, Wahrnehmung und die Struktur des Universums. Der Text zeigt: Zwischen Handlungsunfähigkeit und kosmischer Spekulation liegt oft nur ein einziger Blick.
1. Der Strandkorb als Ort radikaler Kontemplation
Die Erzählposition ist ebenso merkwürdig wie alltäglich: eine Figur – offenbar Neussy – liegt in einem Strandkorb, kratzt sich den Bauch, beobachtet die Welt (oder auch nicht) und stellt sich absurde Fragen über die Notwendigkeit von Bewegung. Dieser triviale Ort wird bei P.H. zum philosophischen Schauplatz – nicht unähnlich Camus’ berühmtem „fremden Strand“ in Der Fremde (1942), wo das Banale ins Tragische kippt.
Doch im Gegensatz zu Camus’ existenzialistischem Ernst kommt P.H. mit einem schrägen Humor daher. Der Strandkorb wird zum Ort der Passivität, zur Bühne eines „faulen Denkens“, das anstelle von Aktion eine feinsinnige Überanstrengung des Geistes pflegt. So steht die Entscheidung, den Kopf nach rechts zu drehen, plötzlich in Beziehung zur Struktur des Universums – eine groteske Überhöhung, die den Menschen gleichzeitig lächerlich und erhaben erscheinen lässt.
2. Entscheidung als Tragödie des modernen Bewusstseins
Ein zentrales Thema des Textes ist die Entscheidung – oder vielmehr die Unfähigkeit zur Entscheidung. „Aufstehen oder nicht aufstehen?“ ist hier nicht nur eine alltägliche Frage, sondern ein Verweis auf die tiefe Unsicherheit moderner Subjektivität. Wie Kierkegaard in Der Begriff Angst (1844) betonte, liegt im Entscheiden stets ein Abgrund: die Möglichkeit, anders zu handeln, verunsichert den Handelnden.
P.H. spitzt dieses Dilemma zu, indem selbst die unbedeutendsten Bewegungen – ein Augenrollen, ein Kopfdrehen – als philosophische Probleme inszeniert werden. Dabei parodiert er sowohl das überreflektierte Ich des 20. Jahrhunderts als auch die klassische metaphysische Sehnsucht nach Ordnung.
3. Kosmische Symmetrie und die Absurdität des Denkens
Das vielleicht tiefgründigste Motiv des Textes ist die Reflexion über „Symmetrie“. Der Erzähler fragt sich, ob er den Kopf nach rechts drehen soll, nur weil er zuvor nach links geschaut hat. Er fürchtet, das Gleichgewicht des Universums könnte gestört sein – oder bereits von jemand anderem wiederhergestellt worden sein. Hier zeigt sich eine zentrale Obsession des menschlichen Denkens: die Suche nach Ordnung, nach Gleichgewicht, nach Sinn.
In der modernen Physik – etwa in der Stringtheorie oder bei Roger Penrose – ist Symmetrie tatsächlich ein Grundprinzip. Doch bei P.H. wird dieses Prinzip ins Groteske gezogen. Was als ernsthafte Theorie im Kosmos gilt, wird zum absurden Gedankenspiel im Strandkorb. Die große Ordnung der Welt trifft auf das kleine, müßige Bewusstsein eines Menschen, der sich am Bauch kratzt.
Diese Diskrepanz erinnert an Thomas Nagels Essay The Absurd (1971), in dem er beschreibt, wie unser Streben nach Bedeutung unweigerlich auf die Gleichgültigkeit des Universums stößt. Für Nagel wie für P.H. liegt im Humor – im Erkennen dieser Kluft – der einzig sinnvolle Umgang mit dem Absurden.
4. Die Kaffaristen als Störung der Leere
Ein wiederkehrendes, rätselhaftes Element des Textes ist die Erwähnung der „Kaffaristen“ – eine Gruppe, die vorbeizieht, aber nie konkret beschrieben wird. Sie könnten eine Art absurde Bedrohung darstellen, ein Symbol für die eindringende Außenwelt, vielleicht auch ein Echo religiöser oder ideologischer Systeme (der Begriff erinnert an „Katharer“ oder „Kaffer“).
Doch P.H. lässt sie bewusst vage. Sie „nehmen die ganze Sicht“ – aber es gibt sowieso nichts zu sehen. Auch das ist ein Spiel mit paradoxen Zuständen: Die Kaffaristen stören die Leere, die wiederum nur in der Vorstellung existiert. Der Protagonist ist in einem Zustand radikaler Kontemplation gefangen, in dem jede äußere Bewegung zur Zumutung wird.
5. Nihilismus mit einem Augenzwinkern
Am Ende bleibt das Fazit des Protagonisten: „Zum Glück ist es dunkel, und es gibt eh nichts zu sehen.“ Das ist kein resignierter Pessimismus, sondern eher ein lakonischer Nihilismus – das freundliche Schulterzucken gegenüber einer Welt ohne Bedeutung. In dieser Haltung liegt eine gewisse Würde, eine sanfte Rebellion gegen Sinnzwang und Aktionismus.
Die Figur hat sich aus der symbolischen Ordnung verabschiedet – keine Mythen, keine Heldentaten, keine metaphysischen Kämpfe. Nur ein Mensch, ein dunkler Himmel, ein paar verfaulende Nagetierreste – und die Frage, ob ein Kompromiss zwischen Augen- und Kopfbewegung möglich ist.
Fazit: Der Mensch als kosmischer Faulpelz
In „Dunkle Symmetrie“ dekonstruiert P.H. auf humorvolle, fast liebevolle Weise das moderne Subjekt: überfordert von seiner Freiheit, fasziniert vom eigenen Denken, gelähmt von der Bedeutungslosigkeit jeder Entscheidung. Es ist ein zutiefst philosophischer Text, der sich der Sprache des Absurden bedient, um das existentielle Dilemma unserer Zeit aufzuzeigen.
Dabei bleibt der Ton stets leicht, ironisch, fast verspielt – und genau darin liegt seine Stärke. Zwischen Bauchkratzen, Kaffaristen und kosmischer Symmetrie zeigt sich eine Wahrheit: Der Mensch ist ein Wesen, das selbst im Nichtstun das Universum befragt – und darin seine eigene, tragikomische Größe erkennt.
Literaturverweise:
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Albert Camus: Der Fremde, Der Mythos des Sisyphos
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Søren Kierkegaard: Der Begriff Angst
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Thomas Nagel: The Absurd
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Roger Penrose: The Road to Reality
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Martin Heidegger: Sein und Zeit (zur Daseinsanalytik)
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Slavoj Žižek: Living in the End Times (zum postideologischen Subjekt)