Das dritte Eis

Trotz seiner spielerischen Form ist der Dialog eine bemerkenswerte Meditation über das Ich im Spannungsfeld zwischen Handlung und Reflexion. Die scheinbare Absurdität der Szene dient als Vehikel für eine tiefergehende erkenntnistheoretische und psychologische Reflexion: Gibt es ein einheitliches Ich, oder sind wir – wie Hume einst schrieb – nur ein „Bündel von Wahrnehmungen“ (A Treatise of Human Nature, 1739)?

Hey, Hank, wie geht es dir?

 

Gute Frage. Und ich habe keine Ahnung, wie ich diese Frage beantworten soll.

 

Vielleicht mit gut, bestens, ausgezeichnet oder so?

 

Weißt du, was mein Problem ist?

 

Jetzt stellst du die guten Fragen.

 

Pass auf, ich saß heute in meinem Sessel, mehr oder weniger schwitzend, hatte gerade mein zweites Eis vertilgt und überlegte nun, ob ich mir noch ein drittes Eis gönnen sollte.

 

Zumindest der erste Teil kommt mir bekannt vor.

 

Gut. Und dann dachte ich, wer ist das eigentlich, der vermutlich gleich aufstehen wird, um sich das dritte Eis zu holen? Verstehst du?

 

Nicht so wirklich.

 

Schau mal, da sitzt einer in seinem Sessel, hat gerade zwei Eis verputzt, denkt darüber nach, sich noch ein drittes Eis zu holen, und jetzt kommt es: ich beobachte ihn dabei.

 

Wen beobachtest du?

 

Genau, das ist es. Hier wird einer vom anderen beobachtet. Das heißt, es gibt mindestens zwei von meiner Sorte.

 

Tu mir das nicht an.

 

Wer bin ich denn nun?

 

Merke, nicht zu viel Eis essen. Aber sag mal, wer von den beiden kann denn jetzt eigentlich behaupten, dass ihm das Eis, oder die Eis, geschmeckt haben? Der, der es geholt hat? Oder der, der den Holer beim Holen beobachtet hat? Oder gibt es noch einen Esser?

 

Nein, ich denke, der Holer und der Esser sind ein und dieselbe Person.

 

Das heißt also, dem Esser hat das Eis geschmeckt.

 

Sieht ganz danach aus.

 

Nur, wie hat der Beobachter davon erfahren?

 

Verstehe. Dann ist es vielleicht doch eher der Beobachter, dem das Eis geschmeckt hat.

 

Ok. Das heißt, es gibt einen Holer und Esser und einen Beobachter und Schmecker.

 

So wird es dann wohl sein.

 

Das heißt, es gibt Einen, der etwas tut und Einen, der das registriert. Das könnte bedeuten, es gibt doch nur eine Person, und diese kann beispielsweise etwas tun oder auch etwas registrieren.

 

Das ist es. Genau, so muss es sein. Du glaubst gar nicht, wie dankbar ich dir bin. Ich dachte schon, die Hitze hat mich jetzt völlig wahnsinnig gemacht.

 

Das freut mich für dich. Denn für mich hört sich das nach einem riesigen Haufen Blödsinn an.

 

Was? Aber das war doch deine Idee?

 

Schon, aber die Frage ist nun, wer registriert das Registrieren, denn das ist doch auch ein Tun?

 

Verdammt. Dann haben wir ja doch ein Problem.

 

Ich glaube, ich muss mich erstmal hinsetzen. Vielleicht hat mir auch die Hitze zugesetzt. Hast du möglicherweise ein Eis für mich?

 

Natürlich. Mach es dir im Sessel bequem. Das Eis kommt gleich. Ich schicke den Holer sofort los.

Analyse

Der hier analysierte Dialog beginnt mit einer einfachen, alltäglichen Frage: „Hey, Hank, wie geht es dir?“ Doch statt einer gewöhnlichen Antwort nimmt das Gespräch eine unerwartete Wendung in philosophische Gefilde. Ausgehend von der Frage nach dem eigenen Befinden entfaltet sich eine vielschichtige Reflexion über das Selbst, Bewusstsein und die Möglichkeit innerer Spaltung. Der Dialog, trotz seiner humorvollen Oberfläche, ist ein Gedankenspiel mit ernstem Hintergrund: Wer bin ich – der Handelnde oder der, der das Handeln beobachtet? Gibt es überhaupt ein „Ich“ als Einheit? Der vorliegende Essay untersucht diesen Dialog im Lichte klassischer und moderner Theorien zur Identität und zum Bewusstsein.

 

1. Der Ausgangspunkt: Die alltägliche Frage als philosophischer Zündfunke

Die banale Frage „Wie geht es dir?“ wird hier nicht mit „gut“ oder „schlecht“ beantwortet, sondern mit einer epistemologischen Verunsicherung: „Ich habe keine Ahnung, wie ich diese Frage beantworten soll.“ Der Sprecher signalisiert: Die scheinbar einfache Frage berührt eine fundamentale Unklarheit über das eigene Selbstverständnis. Schon in der antiken Philosophie galt die Selbsterkenntnis als besonders schwierige Disziplin – das berühmte „Gnōthi seautón“ (Erkenne dich selbst) aus dem delphischen Tempel war weniger Aufforderung zur Nabelschau als Mahnung zur Demut angesichts der Komplexität des Selbst.

 

2. Die Szene: Ein Mann, drei Eis – und zwei Bewusstseinsinstanzen

Der Kern des Dialogs entwickelt sich aus einer alltäglichen, fast lächerlichen Szene: Ein Mann sitzt im Sessel, hat zwei Eis gegessen und überlegt, ob er ein drittes holen soll. Doch dann der Bruch: „Ich beobachte ihn dabei.“ – Es entsteht ein innerer Dualismus. Der Sprecher trennt sich selbst in einen „Holenden und Essenden“ und einen „Beobachtenden“. Diese Spaltung erinnert stark an die philosophische Tradition der Selbstbeobachtung als Teil des Bewusstseins. Der deutsche Philosoph J.G. Fichte argumentierte etwa, dass das Ich sich nur dadurch bewusst werden kann, dass es sich selbst reflektiert – das Ich setzt sich selbst als Ich und zugleich als Nicht-Ich. Auch Søren Kierkegaard sprach vom Selbst als „ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält“ (Die Krankheit zum Tode, 1849).

 

3. Wer hat das Eis gegessen? – Das Rätsel der Zuschreibung

In der weiteren Entwicklung des Dialogs wird die Frage gestellt, wem das Eis eigentlich geschmeckt hat – dem Handelnden oder dem Beobachtenden. Hier zeigt sich ein fundamentales Problem subjektiver Erfahrung: Wer erlebt eigentlich das Erlebte? In der modernen Philosophie ist dies als Problem des qualia bekannt – das subjektive Erleben, das sich nicht objektiv mitteilen lässt (vgl. Thomas Nagel: What is it like to be a bat?, 1974).

Der Beobachter weiß, dass Eis gegessen wurde. Aber wie erfährt er von der Qualität dieses Erlebnisses – dem Geschmack? Hier schwingt auch die Debatte um das „innere Auge“ mit, die Daniel Dennett mit seiner Theorie des „Multiple Drafts Model“ zu dekonstruieren versuchte: Es gibt kein zentrales Ich, das alles erlebt und registriert, sondern verschiedene parallele Prozesse, die das erzeugen, was wir für ein einheitliches Selbst halten (Consciousness Explained, 1991).

 

4. Meta-Reflexion: Wer beobachtet den Beobachter?

Im letzten Drittel des Dialogs kippt die Selbstberuhigung wieder in Verunsicherung: „Denn das Registrieren ist doch auch ein Tun?“ Der Beobachter wird selbst zum Objekt einer neuen Beobachtung – ein klassisches Rekursionsproblem. In der Erkenntnistheorie spricht man hier vom infinite regress: Wenn jedes Tun von einem anderen Tun registriert wird, entsteht ein unendlicher Rückbezug. Auch Douglas Hofstadter beschreibt in Gödel, Escher, Bach (1979) diese Selbstbezüglichkeit als zentrales Paradox des Bewusstseins.

Diese Schleife führt zu einem fast komischen, aber durchaus realen Resultat: Der Beobachter kann niemals vollständig aus sich heraustreten und sich selbst „objektiv“ erfassen. Ein vollständiges Selbstverständnis bleibt immer partiell – das Subjekt ist gleichzeitig Beobachter und Beobachtetes.

 

5. Fazit: Zwischen Eis, Ich und Ironie

Trotz seiner spielerischen Form ist der Dialog eine bemerkenswerte Meditation über das Ich im Spannungsfeld zwischen Handlung und Reflexion. Die scheinbare Absurdität der Szene dient als Vehikel für eine tiefergehende erkenntnistheoretische und psychologische Reflexion: Gibt es ein einheitliches Ich, oder sind wir – wie Hume einst schrieb – nur ein „Bündel von Wahrnehmungen“ (A Treatise of Human Nature, 1739)? Die humorvolle Konversation zwischen zwei Freunden zeigt, wie sich das große philosophische Staunen mitten im Alltag entfalten kann – in einem schwitzenden Sessel, mit einem Eis in der Hand.