Im Text zeigt sich P.H.s Fähigkeit, das Gewöhnliche als Träger des Philosophischen zu entfalten. Der Spaziergang im Regen wird zur Metapher für eine existenzielle Haltung: sich nicht vom Wetter oder vom Leben aus der Ruhe bringen lassen, sondern es bewusst zu erleben – in seiner Absurdität, Schönheit und Lächerlichkeit.
Neussy ging hinaus, um sich die Füße zu vertreten. Scheiß Wetter! Dachte er bei sich. Doch er lächelte bei dem Gedanken. Eigentlich liebte er es, wenn ihm der Regen ins Gesicht peitschte. Dieses Wetter genießen zu können! Er setzte einen Fuß vor den anderen. Spürte genau, was er da tat. Der Wind könnte stärker sein. Spazieren gehen auf dem Erdball. An sich nichts Besonderes. Doch zu wissen, dass man spazieren geht auf einem Steinklumpen, der durchs All treibt, gekettet an einen lebenspendenden, tödlichen Feuerball, das hatte doch wirklich was. Irgendwann würde wieder die Sonne scheinen, oder auch nicht. Was wenn der Regen für Jahrhunderte nicht mehr aufhören würde? Wenn man in den Urlaub fährt, um den Kindern mal die reale Sonne zu zeigen? Wahrscheinlich bekämen die Angst, wegen der ungewohnten Helligkeit und Wärme. Was für sinnlose Gedanken! Lieber die Bewegung genießen. Wie merkwürdig alles aussieht! Fast Lächerlich! Ein Nervensystem und ein Körper, gemacht, um durch die Welt zu streifen, wird nun benutzt, um graue Häuser und Straßenlaternen zu betrachten! Wer da den Witz nicht erkennt...
(Aus: P.H.‘s „Neussy Rock“, Klangwelt Magazin, 1983)
Analyse
In P.H.s kurzem, aber dichtem Prosatext „Bad weather conditions“ begegnen wir einem scheinbar banalen Spaziergang bei Regen. Doch wie bei vielen Texten des Autors entpuppt sich die Alltagsszene als Ausgangspunkt für eine stille, fast spielerische Metaphysik. Der Spaziergänger – Neussy – erlebt in der Witterung kein bloßes meteorologisches Ereignis, sondern einen existenziellen Augenblick: ein Innehalten, ein Spüren, ein Staunen. In einer Welt voller Absurdität und Gewöhnlichkeit entdeckt er – paradox genug – einen Sinn im Unsinn, eine Art poetischen Nihilismus, der dem Leser ein Lächeln abringt.
1. Das Wetter als Weltbezug
„Scheiß Wetter!“, denkt Neussy, nur um im selben Moment darüber zu lächeln. Dieses Oszillieren zwischen Ablehnung und Genuss ist typisch für die dialektische Haltung der Figur – und des Textes selbst. Der Regen wird hier nicht nur als Naturphänomen beschrieben, sondern als sinnlicher Kontakt mit der Welt. Die Peitsche des Regens im Gesicht ist eine Erinnerung daran, dass man lebt.
Diese fast heideggersche Authentizität – das Bewusstsein des eigenen Daseins durch unmittelbare Erfahrung – zieht sich durch den Text. In Heideggers Sein und Zeit wird das „In-der-Welt-Sein“ durch das „Befindlichsein“ konkret: Die Welt wird durch das Wetter, die Bewegung, die Körperlichkeit überhaupt erst erfahrbar. P.H. bringt diesen Gedanken in einer zeitgemäßen, lakonischen Sprache zum Ausdruck.
2. Kosmisches Staunen im Alltagsgang
„Spazieren gehen auf dem Erdball.“ Dieser Gedanke wird im Text augenzwinkernd entmystifiziert und gleichzeitig ins Erhabene gehoben. Der Spaziergang wird zur Reflexion über unsere kosmische Lage: ein Mensch, der einen Fuß vor den anderen setzt – auf einem rotierenden Gesteinsbrocken, der durch das All taumelt, „gekettet an einen lebenspendenden, tödlichen Feuerball“.
Diese paradoxe Bildsprache erinnert an das Staunen der Vorsokratiker – insbesondere Heraklit und Demokrit – und an die existenzielle Überwältigung in der Philosophie von Blaise Pascal, der schrieb: „Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume macht mich schaudern.“ Doch im Gegensatz zu Pascal schaudert Neussy nicht – er lächelt. Er begegnet dem Absurden nicht mit Angst, sondern mit Gelassenheit.
Hier klingt auch der absurde Humanismus Albert Camus’ an, besonders in Der Mythos des Sisyphos: Der Mensch ist verloren in einer sinnlosen Welt, aber gerade durch das bewusste Leben im Absurden gewinnt er eine Art Souveränität. Neussy ist ein moderner Sisyphos, aber er leidet nicht – er geht einfach.
3. Die Komik der Zivilisation
Ein zentraler Moment des Textes ist die ironische Beobachtung über den menschlichen Körper: „Ein Nervensystem und ein Körper, gemacht, um durch die Welt zu streifen, wird nun benutzt, um graue Häuser und Straßenlaternen zu betrachten!“ Der evolutionäre Luxus menschlicher Komplexität dient dazu, Betonbauten anzustarren. Das ist absurd – und komisch.
Diese Ironie erinnert an die Haltung der philosophischen Anthropologie (z.B. bei Helmuth Plessner oder Arnold Gehlen), die den Menschen als „Mängelwesen“ beschreiben, das sich durch Kultur stabilisieren muss. Doch P.H. entlarvt diese Stabilität als bizarren Selbstzweck. Die Welt, die wir erschaffen haben, passt nicht mehr zu dem Wesen, das wir eigentlich sind: Streuner, Sinnsucher, Kinder der Bewegung.
In dieser Beobachtung steckt auch eine Medienkritik: Die Fähigkeit, sich mit dem bloßen Spazierengehen und der Wahrnehmung zufrieden zu geben, ist zur Ausnahme geworden. Der Mensch hat das unmittelbare Erleben gegen Ablenkung eingetauscht. Das Wetter hingegen – roh, unkontrolliert – reißt ihn kurz zurück in die Wirklichkeit.
4. Zwischen Sinnlosigkeit und Sinnerfahrung
Der Gedanke „Was für sinnlose Gedanken!“ ist doppelt lesbar: als selbstironischer Einwurf und als tiefe Wahrheit. Der Text spielt mit dem Begriff der Sinnlosigkeit, nur um am Ende doch auf eine Form von Sinnerfahrung hinauszulaufen – nicht im moralischen, religiösen oder metaphysischen Sinne, sondern in einem radikal diesseitigen, leiblichen: das Gehen, das Spüren, das Erleben selbst.
Dies entspricht dem Gedanken der kontemplativen Achtsamkeit, wie sie etwa in der buddhistischen Philosophie oder auch bei Thich Nhat Hanh formuliert wird: Das einfache Gehen wird zur Übung in Gegenwärtigkeit. P.H. säkularisiert diesen Gedanken – der Spaziergang ist keine Übung, sondern einfach Realität. Und genau darin liegt sein Wert.
Fazit: Ein Spaziergang als Weltanschauung
In „Bad weather conditions“ zeigt sich P.H.s Fähigkeit, das Gewöhnliche als Träger des Philosophischen zu entfalten. Der Spaziergang im Regen wird zur Metapher für eine existenzielle Haltung: sich nicht vom Wetter oder vom Leben aus der Ruhe bringen lassen, sondern es bewusst zu erleben – in seiner Absurdität, Schönheit und Lächerlichkeit.
Es ist ein stiller Text über das Anwesend-Sein in einer Welt, die keinen übergeordneten Sinn bietet – aber dennoch staunenswert ist. Wer den Witz nicht erkennt, hat vielleicht die Pointe des Lebens verpasst.
Literaturverweise:
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Martin Heidegger: Sein und Zeit
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Albert Camus: Der Mythos des Sisyphos
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Blaise Pascal: Pensées
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Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt
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Thich Nhat Hanh: Achtsamkeit. Die Kraft der Gegenwart