Ein leiser, ironischer und zugleich tiefgründiger Dialog über das Verhältnis von Bewegung und Ziel, Mensch und Tier, Sein und Beobachtung. Der Text spielt mit unserer Vorstellung von Aktivität als Wert und stellt ihr ein Denken entgegen, das in der Ruhe und im „Wenig-Tun“ eine Form von Weisheit entdeckt.
Kannst du noch gehen?
Wohin?
Egal.
Ich weiß nicht... Das Ziel ist schon wichtig.
Das Ziel steht noch nicht fest.
Dann ruhe ich mich noch ein bisschen aus.
Macht Sinn. Wird noch schwer genug werden.
Warum tun wir uns das eigentlich an?
Scheint irgendwie menschlich zu sein.
Manchmal wäre ich lieber ein Faultier. Kein Stress.
Kann man sich eben nicht aussuchen.
In meinem nächsten Leben werde ich ein Faultier.
Klingt gut. Was musst du dafür tun?
Möglichst wenig, nehme ich an. Ich denke, dass allzu große Aktivität eher kontraproduktiv wäre.
Klingt plausibel.
Könnte es sein, dass das Faultier die höhere Daseinsform ist?
Da bin ich mir jetzt nicht so sicher. Was sind denn die Kriterien?
Gute Frage. Höhere Daseinsform ist ein menschlicher Ausdruck. Die Anwendung auf andere Lebewesen ist vermutlich sinnlos.
Das denke ich auch. In der Welt des Faultiers kommen Menschen gar nicht vor.
Meinst du, dass es etwas gibt, das in der Welt der Menschen nicht vorkommt?
Da gibt es vermutlich so einiges. Lässt nicht natürlich nicht beschreiben. Aber ausschließen kann man gar nichts.
Das ist wohl wahr. Nichts ist ausgeschlossen. Schon verrückt. Möglicherweise sind wir für andere auch nur Faultiere?
Wer weiß. So, wir müssen weiter.
Und wohin?
Ich würde sagen, zu den Löwen.
So ein Zoobesuch ist schon anstrengend.
Analyse
Der Dialog „Das wiedergeborene Faultier“ beginnt mit einer scheinbar harmlosen Frage – „Kannst du noch gehen?“ – und entfaltet sich schnell zu einem vielschichtigen Gespräch über Sinn, Zielgerichtetheit, Identität und das Wesen des Seins. In lockerem, fast trägem Tonfall wird hier eine tiefe existentielle Reflexion angestoßen, in deren Zentrum das Bild des Faultiers als Gegenfigur zum modernen, gestressten Menschen steht.
Dabei werden philosophische Fragen über Zweck und Richtung, Daseinsformen und das Verhältnis zwischen Aktivität und Passivität behandelt – ganz im Stil einer dialogischen Philosophie, wie man sie bei Sokrates, Laozi, Pascal oder Robert Musil findet.
1. Der Verlust des Ziels – und der Gewinn des Fragens
Der Dialog beginnt mit einer klassischen Situation: Bewegung wird angeregt – doch ohne definiertes Ziel. „Wohin?“ – „Egal.“ Hier zeigt sich bereits das erste Problem: Ohne Ziel ist Bewegung bedeutungslos. Diese Konstellation erinnert an das sokratische Prinzip des Fragens: Nur wer ein Ziel kennt, kann den Weg dorthin wählen. Doch was, wenn das Ziel gerade ungewiss ist?
Diese Anfangsszene berührt den absurden Grundzustand menschlicher Existenz, wie ihn z. B. Albert Camus in Der Mythos des Sisyphos beschreibt: Der Mensch weiß, dass er lebt, aber er weiß nicht, wofür – und dennoch lebt er weiter. Die Antwort des Gesprächspartners – „Dann ruhe ich mich noch ein bisschen aus.“ – wird damit zur ersten Form von Widerstand: Ruhe als legitimer Zustand im Angesicht der Ungewissheit.
2. Das Faultier als Projektionsfigur
Die zentrale Metapher des Textes ist das Faultier – jenes Tier, das als Ikone des Müßiggangs gilt. Die Aussage „In meinem nächsten Leben werde ich ein Faultier“ ist mehr als ein Witz: Sie artikuliert eine Sehnsucht nach radikaler Entschleunigung. Sie spiegelt eine Kritik an der menschlichen Selbstoptimierungskultur, wie sie auch bei Byung-Chul Han in Müdigkeitsgesellschaft formuliert wird.
Im Faultier wird eine Alternative zum leistungsorientierten Menschenbild gesehen: Es lebt langsam, bedächtig, im Einklang mit seiner Umwelt – vielleicht sogar klüger, weil es sich dem Zwang zur Zielgerichtetheit entzieht.
Diese Perspektive erinnert an taoistische Denker wie Laozi, der im Daodejing die Tugend des Wu Wei (Nicht-Handeln oder geschehen lassen) lobt. In dieser Logik wäre das Faultier nicht „faul“, sondern weiser, weil es sich den natürlichen Rhythmen anpasst statt gegen sie anzukämpfen.
3. Was ist eine höhere Daseinsform?
Die Frage „Könnte es sein, dass das Faultier die höhere Daseinsform ist?“ bringt eine interessante Wende. Der Begriff „höhere Daseinsform“ ist dabei als menschliche Projektion entlarvt. Der Dialog dekonstruiert elegant unsere anthropozentrischen Denksysteme: Was Menschen für „höher“ halten, basiert auf Kriterien wie Intelligenz, Produktivität oder Zielverfolgung – doch diese gelten nur innerhalb menschlicher Denkmuster.
Dass das Faultier keine Menschen kennt, aber Menschen sehr wohl das Faultier beobachten, führt zu einem erkenntnistheoretischen Umbruch: Die Perspektive ist entscheidend, nicht der vermeintlich objektive Rang. Damit schlägt der Dialog eine Brücke zu Thomas Nagels berühmtem Essay What is it like to be a bat?, in dem er argumentiert, dass es eine subjektive Wirklichkeit jedes Wesens gibt, die dem Menschen prinzipiell unzugänglich ist.
4. Die Unverfügbarkeit des Anderen – und der Weg zu den Löwen
Am Ende mündet das Gespräch in eine absurde Pointe: „So, wir müssen weiter.“ – „Und wohin?“ – „Ich würde sagen, zu den Löwen.“
Der scheinbar banale Zoobesuch entpuppt sich als Metapher für den menschlichen Drang, Ordnung in die Welt zu bringen, sie zu katalogisieren, zu beobachten, zu kontrollieren – ganz im Gegensatz
zum Faultier, das sich jeder Beobachtung entzieht.
Diese Schlusswendung kann auch als ironischer Verweis auf den Begriff des „Zoos der Begriffe“ gedeutet werden – die menschliche Tendenz, alles kategorisieren zu wollen, auch wenn dies der lebendigen Vielfalt des Seins nicht gerecht wird. Damit greift der Dialog subtil auf die Kritik an der begrifflichen Überformung der Welt zurück, wie sie Martin Heidegger in Sein und Zeit formuliert.
Fazit: Zwischen Trägheit und Transzendenz
„Das wiedergeborene Faultier“ ist ein leiser, ironischer und zugleich tiefgründiger Dialog über das Verhältnis von Bewegung und Ziel, Mensch und Tier, Sein und Beobachtung. Der Text spielt mit unserer Vorstellung von Aktivität als Wert und stellt ihr ein Denken entgegen, das in der Ruhe und im „Wenig-Tun“ eine Form von Weisheit entdeckt.
Im Stil großer philosophischer Dialoge – von Sokrates bis zu Zen-Koans – wird die Gewissheit unterlaufen und durch Fragen ersetzt. Der Mensch erscheint als wahrnehmendes, fragendes, aber nie abschließend wissendes Wesen, das in seinem Versuch, sich selbst zu verstehen, immer wieder scheitert – und dabei womöglich ein bisschen faultierähnlich werden darf.
Weiterführende Gedanken und Verweise:
-
Albert Camus – Der Mythos des Sisyphos
-
Laozi – Daodejing, Konzept des Wu Wei
-
Byung-Chul Han – Müdigkeitsgesellschaft
-
Thomas Nagel – What is it like to be a bat?
-
Martin Heidegger – Sein und Zeit
-
Robert Musil – Der Mann ohne Eigenschaften (Begriff des Möglichkeitsmenschen)