Perspektive

 

Er war ein Polyhistor, der über alles und jedes zu reden wusste, ein Kulturphilosoph, dessen Gesinnung aber insofern gegen die Kultur gerichtet war, als er in ihrer ganzen Geschichte nichts als einen Verfallsprozess zu sehen vorgab. Die verächtlichste Vokabel in seinem Munde war das Wort "Fortschritt"; er hatte eine vernichtende Art, es auszusprechen, und man fühlte wohl, dass er den konservativen Hohn, den er dem Fortschritt widmete, als den wahren Rechtsausweis für seinen Aufenthalt in dieser Gesellschaft, als Merkmal seiner Salonfähigkeit verstand. Es hatte Geist, aber keinen so recht sympathischen, wie er den Fortschritt der Malerei von der primitiv flächenhaften zur perspektivischen Darstellung verhohnigelte. Die Ablehnung der perspektivischen Augentäuschung durch die vor-perspektivische Kunst für Unfähigkeit, für Hilflosigkeit, eben für linkischen Primitivismus zu halten und wohl gar mitleidig die Achseln darüber zu zucken, das war es, was er für einen Gipfel alberner neuzeitlicher Arroganz erklärte. Ablehnung, Verzicht, Geringschätzung seien nicht Unvermögen, Unbelehrtheit, kein Armutszeugnis. Als ob nicht die Illusion das allerniedrigste, dem Pöbel gerechteste Prinzip der Kunst, als ob es nicht einfach ein Zeichen noblen Geschmacks sei, nicht von ihr wissen zu wollen! Von gewissen Dingen nichts wissen zu wollen, diese Fähigkeit, der Weisheit sehr nahestehend oder vielmehr ein Teil von ihr, sei leider abhanden gekommen, und die ordinäre Naseweisheit heiße sich Fortschritt.

 

(Aus: Thomas Mann, "Doktor Faustus", 28. Kapitel)