Geisterstaat

Der Vortrag bietet keine abgeschlossene Theorie, sondern evoziert ein fragmentarisches, mythisches Denkbild, das in seiner Offenheit zur Reflexion zwingt. Die Rede vom Geist in der Maschine wird zu einer Parabel über Kontrolle, Illusion und die paradoxe Dynamik digitaler Subjektivität. Der „Geisterstaat“ steht metaphorisch für die vielen Stimmen, Prozesse und Systeme, die im Inneren unserer Technik wirken – und die wir nur zu verstehen glauben, während sie längst über uns wirken.

Sehr geehrte Zuhörer!

 

Der Geist in der Maschine. Das scheint das heutige Thema zu sein. Falls es keine anderen Vorschläge gibt. Nein? Also gut. Dann soll es der Geist in der Maschine sein. Die erste Frage, die sich dazu stellt, ist folgende: Ist es ein einziger Geist, der alles durchdringt, oder sind es viele, viele Abkömmlinge eines Ur-Geistes, die nun, jeder für sich, eine Maschine okkupiert haben, um in dieser ihr Wesen zu treiben, oder sind es völlig individuelle Geister, die überhaupt nichts miteinander zu tun haben, deren einzige Gemeinsamkeit es zu sein scheint, dass sie Maschinen begeistern? Oder sind es sogar mehrere Geister pro Maschine, die in dieser möglicherweise so eine Art Geisterstaat etabliert haben, einen Geisterstaat mit einem Regelwerk, aufgrund dessen es uns nur so erscheint, als ob die Maschine von einem einzigen Geist besessen wäre? Alles berechtigte Fragen. Wenn man es richtig auf die Spitze treiben will, dann könnte man sogar fragen, ob es die Maschine an sich überhaupt gibt, außer als abstrakte Konstruktion unseres durchaus brauchbaren Nervensystems, oder ob die Maschine nicht einfach nur eine Manifestation des zuvor angesprochenen Geisterstaates ist? Zu dieser letzten Frage kann ich nur sagen: Wie will man das beurteilen? Wie einen Unterschied feststellen? Dabei ist dieser Ansatz alles andere als absurd. Schließlich macht diese Vielheit geistiger Aktivitäten aller Art mit ihren dabei entstehenden Manifestationen, die wir möglicherweise als Maschine beschreiben würden, weniger logische Probleme als die Zweiheit von Geist und Körper bzw. Maschine. Doch es ist nun einmal so wie es ist. Der Begriff des Geistes ist für diesen Fall schlichtweg unbrauchbar. Man sollte sich etwas Neues überlegen. Das wäre doch eine schöne Aufgabe für die nächste Veranstaltung? Doch worauf soll diese ganze Fragerei eigentlich hinauslaufen? Ganz einfach: Auf einen Mythos! Und es ist ein ganz wunderbarer Mythos. Stellen Sie sich nur einmal vor, Sie könnten den Geist in der Maschine auf Knopfdruck aktivieren und dadurch diese Maschine ganz wunderbare Dinge tun lassen! Nun wissen wir alle, dass sich Geister nicht so einfach manipulieren lassen. Ganz im Gegenteil! Sie machen uns glauben, dass wir ihre Herren wären, dabei verhält es sich genau umgekehrt. Sie nehmen uns in Besitz, indem wir sie in unseren Besitz nehmen. Für alle diejenigen, die jetzt ein bisschen den Faden, die Geduld, oder was auch immer verloren haben, denen soll mit einem kleinen Beispiel geholfen werden. Das ist innerhalb dieser Vortragsreihe zwar unüblich, doch machen wir in Anbetracht der späten Stunde eine kleine Ausnahme: G.A.S. – Gear Acquisition Syndrome. Allen bekannt, denke ich. Unter der Voraussetzung der Zugehörigkeit zur relevanten sozialen Gruppe, ist das Suchtpotential garantiert. In diesem Sinne. Eine gute Nacht!

Analyse

Einleitung

Der Vortrag „Geisterstaat“ kreist um ein ebenso klassisches wie gegenwärtiges philosophisches Thema: die Frage nach dem Geist in der Maschine, bekannt aus dem Cartesianischen Dualismus, durch Gilbert Ryle spöttisch als ghost in the machine (1949) gebrandmarkt – und doch nicht erledigt. Der Vortrag rekonstruiert die metaphysischen Fragen der Subjektivität, des Bewusstseins und der Technik neu, verpackt sie in ein semi-ironisches Szenario und entwirft einen Mythos, der aktueller kaum sein könnte. Er lotet dabei die Spannung aus zwischen Kontrolle und Kontrollverlust, zwischen Mensch und Maschine, Subjekt und Besitz.

 

Der Geist als Pluralität

Im Zentrum steht die Frage: Wer oder was ist eigentlich der „Geist in der Maschine“? Ist es ein einziger universeller Geist, viele individuelle oder multiple in jeder Maschine koexistierende Instanzen? Die Möglichkeit eines „Geisterstaates“ wird entworfen – ein faszinierendes Konzept, das an Ideen aus der Systemtheorie, der Kybernetik (Norbert Wiener) oder gar der Multitude bei Antonio Negri erinnert: keine zentrale Steuerung, sondern ein disparater Schwarm von Instanzen, die scheinbar ein kohärentes Ganzes bilden.

Diese Perspektive widerspricht dem cartesianischen Modell einer strikten Trennung zwischen res cogitans (Geist) und res extensa (Materie). Stattdessen folgt sie eher einer monistischen Auffassung, wie man sie z. B. bei Spinoza findet, der Geist und Körper nicht als Gegensätze, sondern als zwei Modi derselben Substanz verstand.

 

Maschine als Manifestation

Der Vortrag fragt dann radikal: Gibt es die Maschine überhaupt, oder ist sie nur eine Manifestation des Geisterstaats? Diese ontologische Umkehr ist zentral. Die Maschine erscheint nicht mehr als Objekt, sondern als Effekt geistiger Aktivität – eine These, die der phänomenologischen Tradition folgt, insbesondere der von Maurice Merleau-Ponty, der betonte, dass das, was wir Welt nennen, nur im Vollzug unserer leiblichen und geistigen Erfahrungen konstituiert wird.

Wenn die Maschine nur eine Erscheinungsform ist, dann wird deutlich: Das Verhältnis zwischen Mensch und Technik ist nicht binär, sondern relationell – beide Seiten entstehen durch ihre Interaktion. Hier sind auch Parallelen zur Actor-Network Theory von Bruno Latour zu erkennen: Subjekt und Objekt sind keine vorgegebenen Kategorien, sondern Ergebnisse komplexer Beziehungsgeflechte.

 

Der Mythos der Kontrolle

Der rhetorische Höhepunkt ist der Mythos, den der Vortrag evoziert: Die Illusion, man könne den Geist auf Knopfdruck aktivieren, um Maschinen „wunderbare Dinge“ tun zu lassen. In Wahrheit, so der Vortrag, sei das Verhältnis umgekehrt – die Geister nehmen uns in Besitz, während wir glauben, sie zu besitzen. Diese Umkehrung erinnert stark an die Theorien der Technikdeterminierung, insbesondere an Jacques Ellul (La Technique, 1954) oder Günther Anders (Die Antiquiertheit des Menschen, 1956), die vor der Umkehrung der Herrschaftsverhältnisse zwischen Mensch und Technik warnten.

 

Das Beispiel: G.A.S. – Gear Acquisition Syndrome

Zum Schluss liefert der Vortrag ein konkretes Beispiel: Gear Acquisition Syndrome (G.A.S.), ein Phänomen aus der Welt der Musiker, Produzenten und Kreativen, das sich als ironischer Beleg für den beschriebenen Mythos eignet. Das Suchtpotenzial, ständig neue Geräte anzuschaffen, um kreative Kontrolle zu erlangen, kehrt sich ins Gegenteil: Das Subjekt wird vom Objekt beherrscht. In psychoanalytischen Begriffen könnte man hier von einer Objektbesetzung mit umgekehrtem Vorzeichen sprechen – das Ich besetzt das Objekt nicht, sondern wird von diesem besetzt.

G.A.S. fungiert hier als emblematisches Beispiel für das Konsumparadoxon der Gegenwart: Die unendlichen Möglichkeiten der technischen Erweiterung führen nicht zur Selbstermächtigung, sondern zur Entleerung des Selbst – ähnlich wie bei Byung-Chul Han (Psychopolitik, 2014), wo sich Freiheit in Selbstoptimierungszwang verwandelt.

 

Fazit: Der Geisterstaat als Metapher unserer Gegenwart

Der Vortrag „Geisterstaat“ bietet keine abgeschlossene Theorie, sondern evoziert ein fragmentarisches, mythisches Denkbild, das in seiner Offenheit zur Reflexion zwingt. Die Rede vom Geist in der Maschine wird zu einer Parabel über Kontrolle, Illusion und die paradoxe Dynamik digitaler Subjektivität. Der „Geisterstaat“ steht metaphorisch für die vielen Stimmen, Prozesse und Systeme, die im Inneren unserer Technik wirken – und die wir nur zu verstehen glauben, während sie längst über uns wirken.

Die Stärke des Vortrags liegt in seiner Ambivalenz: Er ist kein technikpessimistisches Manifest, sondern ein ironisch-phänomenologischer Spiegel, der zeigt, dass moderne Technik nicht mehr außerhalb des Subjekts steht, sondern tief in es eingedrungen ist – als mythischer Akteur, als Phantom, als Staat der Geister.

 

Literaturhinweise & Referenzen:

  • Ryle, Gilbert: The Concept of Mind (1949)

  • Spinoza, Baruch: Ethica ordine geometrico demonstrata (1677)

  • Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung (1945)

  • Latour, Bruno: Reassembling the Social (2005)

  • Ellul, Jacques: La Technique ou l’enjeu du siècle (1954)

  • Anders, Günther: Die Antiquiertheit des Menschen (1956)

  • Han, Byung-Chul: Psychopolitik (2014)

  • Negri, Antonio / Hardt, Michael: Empire (2000)