Grabenkämpfe

Der Dialog untersucht performativ, wie Sinn entsteht, wenn wir uns vom Ergebniskalkül lösen und die Tätigkeit selbst als Erkenntnisweg begreifen. Graben wird zum Symbol für jede Form ernsthaften Forschens, dessen Wert nicht garantierbar ist, dessen Risiko aber Bedingung seiner Fruchtbarkeit bleibt. Die Frage „Lohnt es sich?“ verkehrt sich damit: Erst das Losgraben suspendiert den Kosten‑Nutzen‑Filter und eröffnet das Neue.

Lohnt es sich denn, das Graben?

 

Denke schon.

 

Mmh.

 

Was mmh?

 

Nichts. Einfach nur mmh.

 

Warum nicht mmh-mmh?

 

Das fände ich übertrieben. Ist doch nur ein bisschen Graberei.

 

So siehst du das also. Und was ist das, was du da gerade machst? Guckerei? Mmh?

 

Das war nicht schlecht. Aber jetzt mal ernsthaft. Was machst du da?

 

Ich bin auf der Suche.

 

Auf der Suche nach...?

 

...der Tiefe.

 

Der Tiefe? Und wie tief willst du graben?

 

Tief genug.

 

Woran erkennst du das?

 

Das kann man nicht erklären. Erklärungen sind oberflächlich. Schließlich geht es genau darum, unter die Oberfläche vorzudringen. Ein oberflächliches Frage-Antwort-Spiel hilft da nicht weiter. Es bleibt bei der Handlung des Grabens.

 

Die Handlung des Grabens? Du meinst, man gräbt oder man macht eine Aussage über das Graben, aber dann gräbt man nicht?

 

Hätte ich nicht besser ausdrücken können.

 

Dir geht es tatsächlich um das Graben? Nicht darum, etwas zu finden?

 

Vermutlich werde ich einiges zutage fördern. Das nenne ich dann Ergrabenes, als Resultat der Graberei, wie du das so schön genannt hast.

 

Interessant. Oder so.

 

Was wirklich interessant ist, dass das Ergrabene für die Graberei benutzt werden kann. Das heißt, die Graberei verändert sich. Und womöglich stößt man auf völlig unerwartetes Ergrabenes, was die Graberei wieder verändert usw. Du siehst, ich habe keine Ahnung was geschehen wird.

 

Das ist... neu.

 

Und jetzt stell dir mal vor, ich würde das nicht allein machen. Was da alles möglich wäre. Schließlich müssten sich Graber auch untereinander verständigen.

 

Nicht auszudenken...

 

Wie wär‘s? Ich habe noch eine Ersatzschaufel. Bist du dabei?

 

Ich glaube, ich wäre dir keine große Hilfe. Du weißt doch, mein Rücken... Sonst gern.

 

Kann man nichts machen.

 

Leider. Ich will nicht länger stören. Wir sehen uns auf der anderen Seite.

 

Alles klar.

Analyse

1. Die Metapher des Grabens – Tätigkeit statt Objekt

Der Dialog kreist um die Frage, ob sich das Graben „lohnt“, verlagert den Fokus aber rasch von möglichen Funden auf das Graben selbst als Vollzug. Damit wird eine klassische Unterscheidung aus der Handlungstheorie aufgerufen: poiesis (Erzeugen eines Ergebnisses) versus praxis (Sinn in der Tätigkeit).¹ Wie bei Aristoteles’ Beispiel des Musizierens ist der Wert hier im Prozess verankert, nicht im Produkt. Die Beharrung auf „einfach nur Graberei“ entlarvt jede Nachfrage nach Resultaten als oberflächlich – Erkenntnis liegt im Tun. 

 

2. „Erklärungen sind oberflächlich“ – Kritik des diskursiven Zugriffes

Der Suchende weist Fragen nach Tiefe und Ziel brüsk zurück: sprachliche Explikationen würden das eigentliche Vorhaben verfehlen. Damit knüpft er an die phänomenologische Einsicht an, dass gewisse Erfahrungen (etwa leibliche Orientierung in Merleau‑Pontys Phénoménologie de la perception) prä‑reflexiv sind und sich begrifflichem Zugriff entziehen.² Rede reduziert Komplexität; wahre „Tiefe“ verlangt ein Einlassen ohne Distanz – symbolisiert durch das körperliche Graben.

 

3. Selbst‑referente Zirkularität: Ergrabenes als Werkzeug erneuter Graberei

Besonders fruchtbar ist der Gedanke, das „Ergrabene“ diene als Material für weitere Grabgänge. Der Prozess wird rekursiv, ähnelt Hans‑Georg Gadamer s Hermeneutik, in der jedes Verstehen neue Vorurteile (Vor‑Urteile) generiert, die den nächsten Interpretationszyklus prägen.³ Erkenntnis ist hier ein Spiral‑ statt Linearprozess: Funde transformieren Methoden, Methoden ermöglichen neue Funde – bis ins Offene.

 

4. Kollektive Grabung und die Notwendigkeit von Verständigung

Der Sprecher malt aus, was geschähe, würde man zu mehreren graben: Kooperation erfordert Sprache, jene Instanz, die zuvor als hinderlich erschien. Diese Spannung spiegelt Jürgen Habermas’ These, dass Verständigung zugleich Medium und Produkt gesellschaftlicher Praxis ist.⁴ Tiefenforschung bleibt individuell möglich, erreicht ihr Potenzial aber erst im inter‑subjektiven Austausch – trotz oder gerade wegen der Unzulänglichkeiten von Sprache.

 

5. Die Verweigerung aus „Rücken“-Gründen – Ausflucht oder Einsicht?

Die zweite Figur lehnt die Einladung mit körperlichem Vorwand ab, bekräftigt aber Sympathie: „Sonst gern.“ Dadurch deutet der Text eine Doppelbewegung von Faszination und Scheu an, wie sie Kierkegaard im Begriff des augenblicklichen Sprungs beschreibt: Die Möglichkeit authentischen Tuns löst Angst aus, weil sie radikal Verantwortung zuschreibt.⁵ Nicht der Rücken, sondern die Furcht vor Tiefe hält zurück.

 

6. Fazit

Der Dialog untersucht performativ, wie Sinn entsteht, wenn wir uns vom Ergebniskalkül lösen und die Tätigkeit selbst als Erkenntnisweg begreifen. Graben wird zum Symbol für jede Form ernsthaften Forschens, dessen Wert nicht garantierbar ist, dessen Risiko aber Bedingung seiner Fruchtbarkeit bleibt. Die Frage „Lohnt es sich?“ verkehrt sich damit: Erst das Losgraben suspendiert den Kosten‑Nutzen‑Filter und eröffnet das Neue.

 

Literaturhinweise

  1. Aristoteles: Nikomachische Ethik VI 6 (1140b).

  2. Merleau‑Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung. Paris 1945.

  3. Gadamer, Hans‑Georg: Wahrheit und Methode. Mohr Siebeck 1960.

  4. Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns. Suhrkamp 1981.

  5. Kierkegaard, Søren: Die Angst. Kopenhagen 1844.