Die unausgesprochene Grundlage des gewöhnlichen Denkens

Der Dialog ist ein poetischer und zugleich präziser Versuch, den blinden Fleck des Denkens zu beleuchten. Er führt uns an die Grenze zwischen Sagbarem und Unsagbarem, zwischen Analyse und Gefühl, zwischen Geist und Nebel.

Der Nebel und der Geist. Was fällt dir dazu ein?

 

Nebelgeister. Geisternebel. Benebelter Geist. Begeisterter Nebel. Ok, ich nehme den begeisterten Nebel. Die anderen Sachen haben mich nicht so begeistert. Und da ich lieber begeistert als benebelt bin... Vielleicht fällt mir noch mehr dazu ein. Lass mich mal nachdenken. Ist der Geist verreist? Und wo wohnt er? Im Nebel? Können Geister im Nebel sehen? Davon gehe ich einfach mal aus. Sonst würde es auch nicht viel Sinn machen, dass sie im Nebel wohnen. Andererseits geht es vielleicht mehr um das Nichtgesehenwerden. Da ist so ein Nebel schon geeignet. Was wäre, wenn der Geist mit Nebel angefüllt wäre? Dann wäre er tatsächlich benebelt. Und? Reicht das?

 

Versuchen wir was anderes.

 

Was anderes? Dazu fällt mir bestimmt so einiges ein. Und zwar nicht nur das Eine, sondern mit Sicherheit auch das Andere. Und dazu kommt noch ein Drittes. Nämlich das Besondere. Und was ist das Besondere? Das Besondere ist, dass das Eine und das Andere immer zu zweit auftauchen. Auch wenn das das Besondere ist, so darf man doch dieses Besondere nicht gleichsetzen mit der Beidigkeit des Einen und des Anderen. Denn das ist ganz und gar nichts Besonderes. Wer das nicht ganz klar unterscheidet, liefert sich selbst und seine Umwelt möglicherweise einer ganz enormen Konfusion aus. Also nochmal. Das Besondere ist das ewigliche Auftauchen in Beidigkeit, während die Tatsache, dass sie überhaupt nur als Beidigkeit vorkommen können, mehr als gewöhnlich ist. Sozusagen so gewöhnlich, dass man ein anderes Wort dafür finden sollte. Nur welches? Was ist so gewöhnlich, dass man es noch niemals erwähnt hat und auch niemals erwähnen wird? Es ist die unausgesprochene Grundlage allen gewöhnlichen Denkens. Ja, genau. Dieser Grundlage wird niemals auch nur ein kleines bisschen Beachtung geschenkt werden, und doch spielt sich alles darauf ab. Und wenn sich wirklich alles, und sogar Alles, darauf abspielt, dann ist wohl klar, dass sich vermutlich nicht nur kaum jemand Gedanken darüber macht, sondern vielmehr, dass man nicht einmal weiß, dass da etwas ist, worüber man sich unter Umständen Gedanken machen könnte. Doch sobald man die Frage nach der letzten Grundlage stellt, stellt man sie auch infrage. Insofern könnte man sich vorstellen, dass diese Art von Fragen vielleicht nicht besonders beliebt ist. Und? Besser als Geist und Nebel?

 

Ja, schon. Nur hätte ich eine Frage. Die unausgesprochene Grundlage des gewöhnlichen Denkens, ist das das Andere?

 

Kam das so rüber? Dann ist da wohl etwas komplett schiefgelaufen. Sagen wir mal so. Der Geist ist das Andere des Nebels, und der Nebel ist das Andere des Geistes.

 

Verstehe. Dann hat das Andere tatsächlich nichts mit der unausgesprochenen Grundlage des gewöhnlichen Denkens zu tun. Nur, was ist es dann?

 

Ok, jetzt wird es ein wenig, wie soll ich sagen, ach, ich sage einfach nichts, außer dem, was ich sagen will. Das Problem ist nur, dass ich es gar nicht sagen kann. Nämlich weil die unausgesprochene Grundlage des gewöhnlichen Denkens, vielleicht kannst du es dir schon denken, diese Grundlage wird deshalb niemals ausgesprochen, weil sie gar nicht aussprechbar ist. Ich weiß, das klingt jetzt etwas unbefriedigend, aber was soll ich sagen? Doch wenn man einmal genauer darüber nachdenkt, wird einem ganz schnell bewusst, dass es gar nicht anders sein kann. Denn wenn du, so als kleines Gedankenexperiment, tatsächlich in der Lage wärst, die unausgesprochene, weil unaussprechbare, Grundlage des gewöhnlichen Denkens tatsächlich auszusprechen, dann wärst du von einer größeren Mächtigkeit als diese Grundlage selbst. Das ist jetzt keine klassische Logik, nenne es meinetwegen philosophische Logik, doch ändert das nichts.

 

Verstehe. Und wenn mir das nicht gefällt? Bei dem Begriff der Grundlage habe ich kein gutes Gefühl.

 

Sehr gut. Das ist der entscheidende Punkt. Wie löst man das auf? Ganz einfach. Vergiss alles, was ich zum Thema Grundlage gesagt habe. Dein Gefühl trügt dich nicht. Es ist eine Sackgasse.

 

Und jetzt?

 

Wozu braucht das Denken eine Grundlage? Denken produziert Gedanken, und das wars. Die Probleme kommen erst, wenn man Denken als etwas rein Geistiges mit einer materiellen Grundlage betrachtet. Die entscheidende Frage ist: Kann der Gedanke das Denken erfassen?

 

Nebelgeister. Geisternebel. Benebelter Geist. Begeisterter Nebel...

Analyse

Im Dialog begegnet uns ein schillerndes Zwiegespräch über das Verhältnis von Geist, Nebel und dem Denken selbst. Was auf den ersten Blick verspielt oder sogar absurd anmutet – mit Begriffskombinationen wie „Nebelgeister“, „begeisteter Nebel“ oder „benebelter Geist“ – entpuppt sich bei näherer Betrachtung als tiefgreifende Reflexion über die Grenzen des Denkens, insbesondere über seine unausgesprochene Grundlage.

 

1. Zwischen Spiel und Ernst: Poetische Begriffsverschiebungen

Der Dialog beginnt mit einem Wortspiel, das die zentrale Spannung des Textes bereits in sich trägt: Der „Geist“ und der „Nebel“ werden in verschiedenster Form kombiniert. Diese Begriffscollagen erinnern an die Sprachspiele Ludwig Wittgensteins (Philosophische Untersuchungen, 1953), die zeigen, dass die Bedeutung eines Begriffs oft durch seinen Gebrauch in verschiedenen Kontexten entsteht. Hier deutet das Spiel auf eine tiefere Frage hin: Wie klar ist unser Denken über das Denken selbst?

In der Figur des „benebelten Geistes“ spiegelt sich der Gedanke, dass das Denken nicht immer durchsichtig ist, sondern vom eigenen Medium getrübt werden kann – wie durch Nebel, der sowohl das Sehen ermöglicht als auch verhindert. Das ist mehr als nur ein Bild: Es verweist auf eine epistemologische Selbstverstrickung.

 

2. Das Eine, das Andere, das Besondere – und das Unausgesprochene

Der Dialog gleitet bald in einen strukturell tieferliegenden Gedankengang: Das „Eine“ und das „Andere“ treten stets gemeinsam auf, was als „gewöhnlich“ erscheint. Doch gerade das, was so selbstverständlich wirkt – diese „Beidigkeit“ –, ist die unausgesprochene Grundlage des gewöhnlichen Denkens. Es handelt sich um etwas, das so grundlegend ist, dass es niemals in Frage gestellt wird – gerade weil es jede Fragestellung erst ermöglicht.

Dies erinnert an Martin Heideggers Überlegung zur Seinsvergessenheit in Sein und Zeit (1927). Heidegger argumentiert, dass das Sein selbst als Grundvoraussetzung unseres Denkens meist übergangen wird, weil es nicht thematisiert, sondern vorausgesetzt wird. Auch hier deutet sich eine strukturelle Unsichtbarkeit des Ursprungs an – ein Denken über das Denken, das sich stets selbst unterläuft.

 

3. Unhintergehbarkeit und Unaussprechbarkeit

Ein zentraler Punkt des Dialogs ist der Versuch, diese Grundlage sprachlich zu fassen – und das gleichzeitige Scheitern dieses Versuchs. Die Grundlage ist „unaussprechbar“, und gerade deshalb unausgesprochen. Dieser Gedanke hat eine lange philosophische Tradition:

  • In der negative Theologie (z. B. Meister Eckhart, Dionysius Areopagita) gilt das Göttliche als unaussprechlich, weil jeder Begriff es verfehlen würde.

  • Auch Ludwig Wittgenstein formulierte in seinem Tractatus Logico-Philosophicus (1921) abschließend: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“

  • Später hat Jacques Derrida dieses Schweigen dekonstruiert, indem er zeigte, dass selbst das Unsagbare strukturell mit dem Sagbaren verwoben ist (La différance, 1968).

Der Dialog erkennt also eine philosophische Paradoxie: Jedes Denken, das über seine Grundlage nachdenkt, verlässt bereits diese Grundlage – oder verwandelt sie.

 

4. Kritik an der Grundlagendenkweise

Doch dann vollzieht sich ein Bruch. Der Gesprächspartner äußert Unbehagen mit dem Begriff „Grundlage“: „Bei dem Begriff der Grundlage habe ich kein gutes Gefühl.“ Darin steckt ein postmetaphysischer Reflex, wie ihn die kritische Theorie oder die Spätphilosophie Heideggers vertreten: Die Idee eines festen, unveränderlichen Fundaments wird infrage gestellt.

Stattdessen wird eine prozessuale Sicht des Denkens vorgeschlagen: „Denken produziert Gedanken, und das war’s.“ Es wird keine tieferliegende Substanz angenommen – kein „Geist“, der dem Denken vorgelagert ist –, sondern das Denken wird als praktisch, flüchtig, dynamisch verstanden. Dies erinnert stark an Richard Rortys pragmatistische Philosophie, die mit der Vorstellung abschließt, dass es keine „letzte Begründung“ gibt – nur kontextabhängige Verständigungen.

 

5. Selbstbezug und Endlosschleife: Der Gedanke denkt das Denken

Am Ende bleibt eine entscheidende Frage offen: „Kann der Gedanke das Denken erfassen?“ – eine Frage, die an Selbstbezüglichkeit grenzt. Das Denken versucht sich selbst zu begreifen, was zu einer Art ontologischer Schleife führt. Hier schwingt Douglas Hofstadters Idee der „seltsamen Schleifen“ mit, bekannt aus Gödel, Escher, Bach (1979). Das Denken ist nicht außerhalb seiner selbst zu stellen – und kann sich dennoch in Spiegelungen beobachten.

In der letzten Zeile schließt sich der Kreis: „Nebelgeister. Geisternebel. Benebelter Geist. Begeisterter Nebel...“ Das Denken beginnt von neuem – nicht linear, sondern zirkulär, in Bildern, Andeutungen, Reflexen. Es bleibt benebelt – doch vielleicht ist gerade das der Zustand, in dem das Denken lebendig bleibt.

 

Fazit: Das Denken denkt sich selbst – im Nebel

Der Dialog ist ein poetischer und zugleich präziser Versuch, den blinden Fleck des Denkens zu beleuchten. Er führt uns an die Grenze zwischen Sagbarem und Unsagbarem, zwischen Analyse und Gefühl, zwischen Geist und Nebel. In einer Welt, in der oft Klarheit verlangt wird, erinnert uns dieser Text daran, dass philosophische Tiefe nicht selten dort beginnt, wo Klarheit endet – im Nebel des Selbstdenkens.

 

Literaturhinweise (implizit eingearbeitet):

  • Ludwig Wittgenstein: Tractatus Logico-Philosophicus (1921), Philosophische Untersuchungen (1953)

  • Martin Heidegger: Sein und Zeit (1927)

  • Jacques Derrida: La différance (1968)

  • Richard Rorty: Philosophy and the Mirror of Nature (1979)

  • Douglas Hofstadter: Gödel, Escher, Bach (1979)

  • Meister Eckhart: Predigten und Traktate