Kolibri

Der Text führt uns in einen Raum, in dem Sprache nicht mehr Beschreibung ist, sondern Bewegung – nicht mehr Begründung, sondern Begegnung mit dem Grundlosen. In einer Welt, die nach Eindeutigkeit und festen Wahrheiten verlangt, bietet dieser Text eine Alternative: die Anerkennung der Schwebe, des Fragments, der Differenz.

Sakelo lemanikai.

 

Das ist leicht dahingesagt. Woher weißt du?

 

Das war nicht weiter schwer.

 

 

 

Ich war nicht wirklich dort. So scheint es jedenfalls.

 

Ich bin mir sicher.

 

Kolibri.

 

 

 

Treten Sie ruhig näher!

 

Nun bin ich hier und weiß nicht einmal warum. Doch nichts geschieht ohne Grund. Selbst der Grund existiert nicht ohne Grund. Oder ist er vielleicht grundlos?

 

So wird es sein. Für den Grund gibt es keinen Grund.

 

Daher versteht ihn auch keiner? Der grundlose Grund als Begründung.

 

 

 

 

Es gibt keinen wirklichen Unterschied. Nur das Gewohnte scheidet sich vom Ungewohnten. Sonst ist alles gleich. Und wenn alles gleich ist, ist es nicht wirklich unterscheidbar. Willkürliche Markierungen. Eine Zeit lang hilfreich. Irgendwann im Weg. So geht es hoch und wieder herunter. Der Sinn ist noch zu bestimmen.

 

Es wird Zeit die Heimreise anzutreten.

 

Vielen Dank.

Analyse

Der Text „Kolibri“ präsentiert sich auf den ersten Blick als lose Sammlung kryptischer Aussagen, angereichert mit mystisch klingenden Fragmenten wie „Sakelo lemanikai“ und scheinbar banalen Bemerkungen: „Treten Sie ruhig näher!“. Doch wer sich auf die schwebende, beinahe kolibrileichte Struktur des Textes einlässt, erkennt ein philosophisches Spiel mit Grund, Bedeutung und Wahrnehmung, das sich den gewohnten Strukturen logischer Argumentation bewusst entzieht.

Das zentrale Thema des Textes ist der „grundlose Grund“, ein Paradox, das in der Philosophiegeschichte von Meister Eckhart bis Jacques Derrida Spuren hinterlassen hat. Der Text hinterfragt nicht nur, ob Dinge einen Grund haben, sondern ob überhaupt die Vorstellung von „Grund“ selbst einen Halt besitzt – und ob nicht gerade darin das Wesen des Denkens liegt: in der Bewegung ohne festen Boden.

 

1. „Sakelo lemanikai“: Das Unverständliche als Einladung

Der Text beginnt mit einem unverständlichen Ausdruck – „Sakelo lemanikai“. Es wird nicht erklärt, nicht übersetzt, nicht einmal als fremd markiert. Damit setzt der Text gleich zu Beginn ein Zeichen: Er stellt nicht das Verstehen, sondern die Verwirrung ins Zentrum.

Dies erinnert an Martin Heideggers Umgang mit Sprache, insbesondere in „Unterwegs zur Sprache“, wo er die Sprache selbst als das Geschehen des Denkens beschreibt – nicht als Instrument der Klarheit, sondern als Ort des Unverfügbaren. Auch bei Heidegger ist der Anfang oft das Nicht-Verstehen:

„Die Sprache ist das Haus des Seins.“
(Heidegger, Brief über den Humanismus)

So ist „Sakelo lemanikai“ nicht etwa ein Hindernis, sondern eine Schwelle – ein Nicht-Ort zwischen Bedeutung und Schweigen.

 

2. Der grundlose Grund: Paradoxe Fundamente

Im Zentrum des Textes steht eine paradoxe Bewegung:

„Doch nichts geschieht ohne Grund. Selbst der Grund existiert nicht ohne Grund. Oder ist er vielleicht grundlos?“

Dieser Gedankenkomplex erinnert an Meister Eckhart, der im 13. Jahrhundert vom „grundlosen Gott“ sprach – ein göttliches Prinzip jenseits aller Begründung, das sich nicht logisch herleiten lässt. Auch im „Kolibri“-Text wird der „Grund“ selbst fragwürdig, ja sogar zur Begründung seiner eigenen Grundlosigkeit:

„Der grundlose Grund als Begründung.“

Hier wird die klassische abendländische Logik unterlaufen, die stets nach einem festen Ausgangspunkt sucht (vgl. Aristoteles’ „unbewegter Beweger“ oder Descartes’ „cogito ergo sum“). Der Text lehnt diese Logik ab – nicht durch Widerlegung, sondern durch spielerische Umkehrung.

 

3. Gewohnheit vs. Ungewohntes: Das Spiel der Differenz

Ein weiteres zentrales Motiv ist die Differenz zwischen dem Gewohnten und dem Ungewohnten:

„Nur das Gewohnte scheidet sich vom Ungewohnten. Sonst ist alles gleich.“

Diese Aussage greift ein philosophisches Problem auf, das Jacques Derrida in seiner Dekonstruktion behandelt: Was, wenn Unterschiede keine Substanz, sondern nur Differenzen sind? Wenn also Bedeutungen nur im Unterschied zueinander existieren – aber niemals in sich selbst?

Derrida bezeichnet dies als „différance“ – ein zugleich zeitliches und räumliches Auseinanderklaffen von Bedeutung, das niemals einen festen Kern erreicht. Genau das scheint auch im Text gemeint zu sein: Die Markierungen, die wir setzen, um zu unterscheiden, sind „willkürlich“, zunächst hilfreich, später hinderlich.

Der Text drängt uns dazu, unsere Kategorien aufzugeben – nicht um „alles gleich zu machen“, sondern um offen zu bleiben für das, was sich der Festlegung entzieht.

 

4. Kolibri: Symbol für Leichtigkeit und Unerreichbarkeit

Der Titel „Kolibri“ ist nicht zufällig gewählt. Der Kolibri ist ein Wesen der Schwebe, der kleinste unter den Vögeln, kaum greifbar, blitzschnell. Er steht für das Flüchtige, das Unfassbare – für Bewegung ohne Ziel, für Schönheit ohne Zweck. In der Mythologie verschiedener Kulturen gilt der Kolibri als Botschafter zwischen Welten, als Symbol der Wandlung.

Im Text erscheint das Wort „Kolibri“ isoliert, ohne Kontext – genau wie das erste Wort „Sakelo lemanikai“. Beide sind Leerstellen und Verdichtungen zugleich, wie ein poetisches Echo zwischen Anfang und Zentrum des Textes. Der Kolibri selbst wird so zum poetischen Träger des gesamten philosophischen Anliegens: Denken ohne Schwere, Begründen ohne Grund, Sein im Schweben.

 

5. Heimreise als Abschied von der Bedeutung?

Der Text schließt mit einer scheinbar versöhnlichen Wendung:

„Es wird Zeit, die Heimreise anzutreten.“

Doch was bedeutet Heimkehr, wenn das Zuhause kein fester Ort ist, sondern ein Ort des Nicht-Verstehens, des grundlosen Verweilens? Vielleicht ist „Heimreise“ hier nicht Rückkehr zu Bekanntem, sondern Rückkehr zur Bereitschaft, nicht zu wissen.

Im Sinne Ludwig Wittgensteins (Tractatus Logico-Philosophicus), könnte man sagen:

„Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“
(Satz 7)

Doch der Kolibri-Text geht einen anderen Weg: Er schweigt nicht, sondern flüstert, tanzt, verflüchtigt sich – und lädt uns ein, das Denken selbst als poetisches Ereignis zu begreifen.

 

Fazit: Das Denken im Schwebezustand

Der Text „Kolibri“ führt uns in einen Raum, in dem Sprache nicht mehr Beschreibung ist, sondern Bewegung – nicht mehr Begründung, sondern Begegnung mit dem Grundlosen. In einer Welt, die nach Eindeutigkeit und festen Wahrheiten verlangt, bietet dieser Text eine Alternative: die Anerkennung der Schwebe, des Fragments, der Differenz.

In der Figur des Kolibris verdichtet sich das ganze Anliegen: klein, frei, schnell – aber nie greifbar. Das Denken, so die implizite These, ist lebendig nur dort, wo es sich nicht im Festschreiben des Grundes erschöpft, sondern offen bleibt für die Erfahrung des grundlosen Grunds.

 

Literaturverweise:

  • Martin Heidegger, Unterwegs zur Sprache – Die Sprache als Ort des Denkens

  • Jacques Derrida, Die Schrift und die Differenz – différance und Auflösung der festen Bedeutung

  • Meister Eckhart, Reden der Unterweisung – Gott als grundloser Grund

  • Ludwig Wittgenstein, Tractatus Logico-Philosophicus – Schweigen als Grenze der Sprache

  • Gaston Bachelard, Poetik des Raumes – Leichtigkeit und Imagination