Keine Ursache

Das Staunen über „unlösbare Widersprüche, Rätsel und Paradoxien“ ist nicht Zeichen eines Denkversagens, sondern Ausdruck einer Haltung, die das Nicht-Verstehbare nicht unterdrückt, sondern anerkennt. Diese Form der Erkenntnis hat viel mit dem zu tun, was Immanuel Kant als das „Erhabene“ bezeichnete – eine Erfahrung, die den Verstand übersteigt, aber dennoch Bedeutung hat.

Meine lieben Zuhörer,

 

heute möchte ich mal wieder auf eine dieser „Wie ist das eigentlich mit...?“ Fragen eingehen. Betreffend 'Zeit' wurde schon einiges gesagt. Daher geht es heute um: „Wie ist das eigentlich mit Ursache und Wirkung?“ Nun ist das keine ausgesprochen philosophische Frage. Denn das Denken in Ursache-Wirkung-Kategorien funktioniert nur, wenn es keine logischen Diskontinuitäten gibt. Es gibt einzig das bekannte logische Kontinuum, oder wie es ein berühmter Denker ausgedrückt hat: Es gibt nur eine einzige logische Kontextur. Da der Anwendungsbereich für dieses Denken doch eher eingeschränkt ist, selbst in der Physik funktioniert es schon lange nicht mehr, fragen Sie sich sicherlich, meine lieben Zuhörer, da Sie ja nicht so denken, ob es Ihnen vielleicht einfach nur an Vorstellungskraft oder Phantasie dafür fehlt? Es ist leider tatsächlich so, dass einem vieles entgeht, wenn man sein Denken nicht auf eine einzige Kontextur beschränkt. Allein dieses Staunen über all die wunderbaren, unlösbaren Widersprüche, Rätsel und Paradoxien, die sich ganz zwangsläufig ergeben aus der Betrachtung der polykontexturalen Wirklichkeit durch einen monokontexturalen Filter. Da Ursachen bekanntlich auch als Wirkungen betrachtet werden können und umgekehrt, ja nachdem wo man die Grenzen zieht, und diese Ursachen und Wirkungen auch mehr oder weniger kompliziert sein können, es sich demnach nur um eine einzige Kategorie handelt, nennen wir diese Kategorie üblicherweise 'Kompliziertheit', entstanden und entstehend aus dem Zusammenspiel der Komplexitäten bzw. logischen Kontexturen. Eine sehr berühmte Komplexität, sie selbst ein Zusammenspiel vieler kleinerer Komplexitäten, lebte wohl vor sehr langer Zeit auf Kreta und ist bekannt geworden durch einen einzigen Satz. Ist das nicht erstaunlich? Diese Komplexität hatte es tatsächlich geschafft, ihrer monokontextural geschulten Hörerschaft mit einem einzigen Satz ein ewiges Rätsel aufzugeben. Nun fragen Sie sich, wie man darauf kommt, eine Kompliziertheit produzierende Komplexität, auch wenn der berühmte Satz nur wenig Kompliziertheit besaß, selbst für eine Kompliziertheit zu halten, was bedeutet, diese Komplexität nur in Ursache-Wirkung-Kategorien zu denken? Ich weiß es nicht. Dass es in einer Kompliziertheit bespielweise keine Zeit gibt, schien scheinbar niemanden zu stören. Aber so war das damals. In diesem Sinne. Gute Nacht!

Analyse

In seinem Vortrag entfaltet der Redner auf humorvolle, zugleich tiefgründige Weise eine Kritik an der traditionellen Denkfigur von Ursache und Wirkung. Was zunächst als klassische „Wie ist das eigentlich mit...“-Frage daherkommt, entpuppt sich schnell als ein Streifzug durch erkenntnistheoretische und logische Konzepte, insbesondere im Spannungsfeld von monokontexturaler und polykontexturaler Wirklichkeitsauffassung. Im Zentrum steht dabei die Frage: Ist unser Denken in Kausalität noch tragfähig – oder ist es selbst nur Ausdruck eines beschränkten logischen Rahmens?

 

1. Kausalität als monokontexturale Denkfigur

Im westlichen Denken – von Aristoteles über Descartes bis hin zur klassischen Physik – war die Annahme einer linearen Kausalität lange unangefochten. Ursache und Wirkung wurden als klar voneinander abgrenzbare Stationen innerhalb eines kontinuierlichen, logischen Prozesses verstanden. In dieser Sichtweise ist das Universum vollständig erklärbar, solange wir alle Ursachen kennen – eine Position, die bis ins 19. Jahrhundert auch die Physik dominierte (Laplacescher Determinismus).

Doch, wie der Redner betont, ist das Denken in „Ursache-Wirkung-Kategorien“ nur innerhalb eines logischen Kontinuums möglich. Dieses Kontinuum – eine „einzige logische Kontextur“ – bildet die Basis einer monokontexturalen Weltsicht, die nur eine Wahrheit, eine Logik und eine Perspektive anerkennt.

 

2. Die polykontexturale Wende

Demgegenüber steht der Begriff der Polykontexturalität, der wesentlich von dem deutschen Systemtheoretiker und Kybernetiker Gotthard Günther geprägt wurde. In seinem Werk stellte Günther die Idee vor, dass es mehrere gleichzeitig gültige logische Systeme geben könne – Kontexturen, die einander nicht unbedingt widersprechen, sondern unterschiedliche Perspektiven auf die Realität darstellen.

Der Vortrag spielt hiermit, wenn er formuliert, dass der Blick durch einen „monokontexturalen Filter“ zwangsläufig zu Paradoxien führt, sobald er auf eine „polykontexturale Wirklichkeit“ trifft. In anderen Worten: Unsere Kausalitätslogik versagt, wenn wir es mit Phänomenen zu tun haben, die nicht linear, sondern emergent, zirkulär oder mehrdeutig sind.

 

3. Kompliziertheit als emergente Kategorie

Eine der originellsten Passagen des Vortrags ist die Einführung der Kategorie „Kompliziertheit“ als Ergebnis des Zusammenwirkens mehrerer Komplexitäten (sprich: Kontexturen). Diese semantische Verschiebung zeigt, dass Ursache und Wirkung gar keine getrennten Entitäten sein müssen, sondern dass sie sich je nach Kontext gegenseitig bedingen oder sogar austauschbar sein können – „je nachdem, wo man die Grenzen zieht“.

In gewissem Sinne reflektiert dies den Gedankengang des poststrukturalistischen Philosophen Jacques Derrida, für den jede Grenzziehung zugleich auch eine Verschiebung, eine Différance, mit sich bringt: Bedeutung entsteht nie aus festen Positionen, sondern aus deren Differenzen und Kontextabhängigkeit.

 

4. Das kretische Paradox: Selbstbezüglichkeit als erkenntnistheoretisches Problem

Im Vortrag wird ein „sehr berühmter Satz“ erwähnt, der eine Komplexität aus Kreta unsterblich machte – klarer Verweis auf das sogenannte Lügner-Paradoxon: „Ein Kreter sagt: ‚Alle Kreter lügen.‘“ Dieses klassische Paradoxon ist ein Paradebeispiel für Selbstbezüglichkeit – ein logisches Problem, das sich innerhalb monokontexturaler Systeme nicht auflösen lässt.

Hier offenbart sich die Kraft der polykontexturalen Sichtweise: Nur wenn wir verschiedene logische Ebenen oder Kontexte zulassen, können wir solche Widersprüche angemessen betrachten, anstatt sie als „irrational“ abzulehnen. Heinz von Foerster, ein Pionier der Kybernetik 2. Ordnung, nannte dies das „Problem der Beobachtung des Beobachters“ – eine erkenntnistheoretische Selbstreflexion, die im monokontexturalen Denken unterdrückt wird.

 

5. Zeit und Kompliziertheit: Eine radikale Konsequenz

Besonders provokativ ist der Gedanke, dass „es in einer Kompliziertheit keine Zeit gibt“. Zeit – verstanden als lineare Abfolge von Ursache und Wirkung – ist ein Grundpfeiler des klassischen Denkens. Wird jedoch Ursache-Wirkung als eine relative, kontextabhängige Beziehung entlarvt, gerät auch das Zeitverständnis ins Wanken.

In der Quantenphysik, etwa bei Carlo Rovelli, wird bereits an nicht-linearen Zeitmodellen gearbeitet, in denen Kausalität nicht absolut ist. In ähnlicher Weise stellt die „Kompliziertheit“ des Vortrags eine Zone jenseits linearer Zeitmodelle dar – eine Art „epistemischer Grenzbereich“, in dem Zeit nicht abgeschafft, sondern dekonstruiert wird.

 

Fazit: Die Kunst des Staunens über das Unaufhebbare

Der Vortrag endet mit einem fast ironischen „Gute Nacht!“ – als wollte der Redner die Zuhörer ins Staunen und Träumen entlassen. Das Staunen über „unlösbare Widersprüche, Rätsel und Paradoxien“ ist nicht Zeichen eines Denkversagens, sondern Ausdruck einer Haltung, die das Nicht-Verstehbare nicht unterdrückt, sondern anerkennt.

Diese Form der Erkenntnis hat viel mit dem zu tun, was Immanuel Kant als das „Erhabene“ bezeichnete – eine Erfahrung, die den Verstand übersteigt, aber dennoch Bedeutung hat. Sie fordert von uns nicht weniger als eine Veränderung unserer Denkhaltung, weg von linearer Erklärung, hin zu einem Spiel mit Mehrdeutigkeiten, Paradoxien und emergenten Ordnungen.

 

Literatur- und Ideengeber:

  • Gotthard Günther: Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik

  • Heinz von Foerster: Wissen und Gewissen – Versuch einer Brücke

  • Jacques Derrida: La différance

  • Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft (Erhabenheit)

  • Carlo Rovelli: The Order of Time

  • Gregory Bateson: Steps to an Ecology of Mind

Without cause

The central message is that thinking solely within causal, linear, monocontextural frameworks is a self-imposed limitation. It blinds us not only to other modes of reasoning but also to the beauty of paradox, the mystery of emergence, and the freedom of multiple perspectives.

My dear listeners!

 

Today I would like to go back to one of those "What about...?" questions. A lot has already been said about 'time'. So today it's about: "What about cause and effect?" Now that's not a particularly philosophical question. Because thinking in cause-and-effect categories only works if there are no logical discontinuities. There is only the well-known logical continuum, or as a famous thinker put it: There is only one logical contexture. Since the area of application for this thinking is rather limited, even in physics it hasn't worked for a long time, you're probably asking yourself, my dear listeners, since you don't think like that, whether you just lack imagination or imaginativeness for it? It's a fact, unfortunately, that if you don't limit your thinking to a single contexture, you miss a lot. Just this amazement at all the wonderful, unsolvable contradictions, mysteries and paradoxes that inevitably result from viewing polycontextural reality through a monocontextural filter. Since, as is well known, causes can also be regarded as effects and vice versa, depending on where one draws the line, and since these causes and effects can also be more or less complicated, so that it is only a single category, we usually call this category 'complicatedness', emerged and emerging from the interaction of the complexities or logical contextures. A very famous complexity, itself an interplay of many smaller complexities, probably lived in Crete a very long time ago and became known through a single sentence. Isn't that amazing? This complexity had actually managed to pose an eternal riddle to its monocontexturally trained audience with that single sentence. Now you ask yourself how one comes to consider a complexity that produces complicatedness, even if the famous sentence had only little complicatedness, to be a complicatedness itself, which means thinking this complexity only in cause-and-effect categories? I dont know. The fact that there is no 'time' in a complicatedness, for example, didn't seem to bother anyone. But that's how it was back then. See you soon and good night!

Analysis

Introduction: The Illusion of Simplicity

In the lecture under analysis, the speaker humorously deconstructs the seemingly straightforward question: "What about cause and effect?" What unfolds is a thoughtful critique of one of the most fundamental assumptions of Western thought — causal determinism — and its limitations in the face of what the speaker calls a polycontextural reality. Drawing implicitly on cybernetics, systems theory, and logic philosophy, the talk questions not just how we think, but within what framework we think.

 

The Causal Paradigm and Its Boundaries

For centuries, Western epistemology has been dominated by the belief that reality unfolds in a linear sequence of causes and effects. From Aristotle's four causes to Newtonian mechanics, the causal model has served as the bedrock of logic, science, and metaphysics. This model presupposes what the speaker calls a "logical continuum" — a unbroken, rational, and consistent chain in which events can be traced back to clear origins and projected forward to predictable outcomes.

However, as the speaker notes, even physics — especially quantum mechanics and relativity theory — has abandoned strict causal determinism. Werner Heisenberg’s Uncertainty Principle and Bell's Theorem famously challenge the notion of locality and predictability, suggesting that at a fundamental level, cause and effect may be statistical or even illusory.

 

Monocontextural Thinking: A Limiting Lens

The speaker introduces the term monocontexturality to describe this traditional mode of thinking. In this view, there exists only one valid logical system — a single frame of reference through which reality is filtered. Within such a framework, everything must be causally connected and logically coherent. This mirrors what philosopher Immanuel Kant called the “conditions of the possibility of experience”: space, time, and causality.

Yet the speaker suggests that this framework is inadequate for engaging with the full richness of reality. It filters out contradictions, paradoxes, and ambiguities — labeling them as irrational rather than signals of a deeper complexity. Here, the talk implicitly echoes Gotthard Günther, a German philosopher and cybernetician, who developed the concept of polycontexturality: the idea that multiple, simultaneously valid logical systems can exist and intersect without being reducible to one another.

 

Complicatedness vs. Complexity: A Semantic Shift

Rather than speaking simply of cause and effect, the speaker introduces a more nuanced concept: complicatedness, understood as the emergent result of interacting complexities or “logical contextures.” Where complexity refers to the structures themselves — potentially irreducible, dynamic, and context-dependent — complicatedness refers to the manifest interplay among them, as it appears to an observer operating within a limited framework.

This linguistic shift is crucial. It moves us away from seeking linear, causal explanations toward embracing a worldview in which outcomes are emergent, recursive, and self-referential. In this sense, the lecture draws from systems theory, particularly as developed by thinkers like Niklas Luhmann, who argued that society consists of overlapping, autopoietic systems — each with its own logic and boundaries.

 

The Cretan Paradox: Self-Reference and its Discontents

A particularly elegant moment in the lecture references a “famous complexity” from Crete — almost certainly a nod to the Liar Paradox: "All Cretans are liars," said by a Cretan. This ancient riddle exemplifies self-reference and logical paradox, which traditional logic systems (monocontextural ones) struggle to accommodate.

As Douglas Hofstadter argued in Gödel, Escher, Bach (1979), such paradoxes are not mere curiosities but deep clues to the nature of self-awareness, recursion, and the limitations of formal systems. Indeed, Kurt Gödel's incompleteness theorems showed that any sufficiently powerful logical system contains true statements that cannot be proven within the system itself — a fatal blow to monocontexturalism.

 

Temporal Disruption: A World Without Time?

One of the most provocative claims made in the lecture is that "there is no 'time' in a complicatedness." In classical causality, time is the medium through which causes precede effects. If complicatedness dissolves the boundaries between cause and effect — if they are just roles played within context-dependent structures — then the linear arrow of time collapses.

This reflects ideas from Carlo Rovelli’s work in theoretical physics. In The Order of Time (2018), Rovelli argues that time is not a universal flow but an emergent property of complex systems — different observers may experience different temporalities. Similarly, in Buddhist metaphysics, especially in Nāgārjuna's Madhyamaka, causality and time are considered conceptual constructs rather than absolute realities.

 

Conclusion: Thinking Beyond the Filter

The speaker ends on a light note — “Good night!” — but by then, the listener has been deeply provoked. The central message is that thinking solely within causal, linear, monocontextural frameworks is a self-imposed limitation. It blinds us not only to other modes of reasoning but also to the beauty of paradox, the mystery of emergence, and the freedom of multiple perspectives.

We are invited not to abandon logic, but to expand it — to think polylogically, to embrace ambiguity, and to revel in the wonder of the unsolvable. In a world increasingly defined by systemic crises, recursive problems, and uncertainty, this may not be merely a philosophical luxury, but a practical necessity.

 

Suggested Readings and References

  • Gotthard Günther, Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik (1962–73)

  • Heinz von Foerster, Observing Systems (1981)

  • Niklas Luhmann, Social Systems (1995)

  • Douglas Hofstadter, Gödel, Escher, Bach: An Eternal Golden Braid (1979)

  • Carlo Rovelli, The Order of Time (2018)

  • Kurt Gödel, On Formally Undecidable Propositions (1931)

  • Immanuel Kant, Critique of Pure Reason (1781)

  • Nāgārjuna, Mūlamadhyamakakārikā (ca. 2nd century)