Konnex

Ein philosophischer Text, der sich dem direkten Zugriff entzieht. Seine Bedeutung liegt im Zwischenraum – zwischen Form und Inhalt, zwischen Gesellschaft und Individuum, zwischen rhetorischem Ablauf und existenzieller Stille. Der Text stellt keine These auf, sondern führt ein Denken vor, das sich seiner eigenen Bedingungen bewusst ist.

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Wenn man den Ablauf kennt, weiß man dann auch, wie etwas abläuft? Es geht schließlich nicht immer nur geradeaus. Das ist eher die Ausnahme. Ausblenden und Vermeiden. Unter Ausnutzung der Inertialtät gibt es kein spürbares Entgegenkommen. Und was bedeutet Nicht-Spürbarkeit für die vermeintliche Existenz des Anderen? Liebe Rhetoriker, schön, dass Sie so zahlreich erschienen sind. Noch irgendwelche Fragen? Vielleicht aus der zweiten Reihe? Zurück zum Ablauf. Dieser steht. Und das wie gewohnt am Spielfeldrand. Nun sind alle gefragt. Im Sinne einer prädiktiven Reduktion zur Prävention von zu viel Konkretheit wird gebeten, auf gängige Formulierungsstrategien zurückzugreifen. Nur so kann sichergestellt werden, dass sich am Ende alle auf dem gleichen Verständnislevel bewegen, was letztendlich die Voraussetzung ist für die Kontinuität des momentanen Ablaufs, sowie aller zukünftigen Abläufe. Und das ist doch, was wir alle wollen. Deswegen sind wir hier und kommen auch jedes Jahr wieder hierher. In diesem Sinne. Kommen Sie gut nach Hause.

 

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Der Zustand ist beschrieben. Das weiße Blatt. Wenn man wenigstens nur einmal davon absehen würde! Doch das tut nichts zur Sache und nichts zu irgendetwas anderem. Denn diese beiden sind längst verschwunden. Geflüchtet noch vor Sonnenuntergang, um etwaige Begegnungen mit den Verlorenen und den Schuldigen zu vermeiden. Auch Tommy war hier. Sein Fall war ein besonderer. Er war leicht zu erkennen. Nicht wegen seines orangefarbenen Namensschildes. Jetzt hieß es nur noch, möglichst schnell die Wüste zu erreichen und sich in völliger Gelassenheit der Trockenheit und der ersehnten Hitze auszusetzen. Tommy ging es schon besser. Die Weite und die Stille. Die Freundlichkeit der Wüste hatte ihm gefehlt. Was war passiert? Er war schon zu lange bei den Menschen. In der Wüste brauchte er nur ein wenig Wasser. Bei den Menschen reichte das nicht.

Analyse

Der Text „Konnex“ besteht aus zwei stilistisch wie thematisch verbundenen Fragmenten, die das Motiv der Verbindung (lat. con-nexio) nicht nur thematisieren, sondern auch in ihrer Struktur performativ unterlaufen. In schwebenden Sätzen, zwischen analytischer Ironie und poetischem Verzicht auf Eindeutigkeit, wird ein Zustand beschrieben, in dem Kommunikation, Beteiligung und sogar Existenz selbst von einer Art struktureller Unverbindlichkeit unterlaufen werden. Die Frage, ob Abläufe und Zustände wirklich verstanden werden können – oder ob sie nur simuliert werden – ist leitend. Dabei werden rhetorische Muster durchleuchtet, sprachliche Automatismen ironisiert und die Sehnsucht nach Sinnhaftigkeit in eine karge Wüste projiziert.

 

1. Abläufe und Automatisierung – Vom Wissen zum Vollzug

Der erste Abschnitt beginnt mit einer scheinbar banalen Frage:

„Wenn man den Ablauf kennt, weiß man dann auch, wie etwas abläuft?“

Diese Umformulierung einer tautologischen Annahme – Wissen durch Kenntnis – wird sofort destabilisiert. Die Frage weist auf ein zentrales Problem moderner Informationsgesellschaften hin: Kognition ersetzt nicht Erfahrung, und Kenntnis ersetzt nicht Beteiligung. Es ist die Differenz zwischen Verstehen und Durchleben, zwischen Theorie und Vollzug.

Der Hinweis, dass es „nicht immer nur geradeaus“ geht, zielt auf die Kritik linearer Denkstrukturen, die Abläufe oft schematisch darstellen, obwohl die Wirklichkeit voller Ausblendungen, Vermeidung und Trägheitsmomente (Inertialität) ist. Dieses physikalische Bild verdeutlicht: Wer sich in der Systemlogik mitbewegt, spürt kaum Widerstand – eine kritische Anspielung auf den gesellschaftlichen Mainstream und die rhetorisch geübte Behauptung von Konsens.

 

2. Kommunikation als Simulation – Rhetorik der Leere

Der Text wendet sich nun mit ironischem Ernst an eine imaginäre Zuhörerschaft:

„Liebe Rhetoriker, schön, dass Sie so zahlreich erschienen sind.“

Hier wird die Kommunikationssituation selbst zur Bühne. Das Publikum, als Chiffre für diejenigen, die Kommunikation beherrschen, ist eingeladen – jedoch nicht zum Dialog, sondern zur Wiederholung standardisierter Strategien. Der ironisch eingeführte Begriff einer „prädiktiven Reduktion zur Prävention von zu viel Konkretheit“ ist ein sarkastischer Kommentar auf die Technokratisierung von Sprache, auf die Idee, dass Verständigung nur noch funktioniert, wenn sie inhaltsleer genug ist, um Anschlussfähigkeit zu sichern (vgl. Niklas Luhmanns Systemtheorie).

Diese Kommunikationsform ist formal konsensfähig, aber inhaltlich steril. Der „Ablauf“ bleibt bestehen, doch es ist unklar, ob überhaupt noch jemand etwas Bestimmtes meint – oder ob das System nur noch sich selbst aufrechterhält. Die Aufforderung am Ende des ersten Abschnitts, „kommen Sie gut nach Hause“, wirkt wie eine Floskel nach einem Kongress. Doch auch sie bleibt unheimlich – wohin genau „nach Hause“?

 

3. Flucht in die Wüste – Topografie des Rückzugs

Der zweite Teil wendet sich vom strukturellen Kollektiv ab und beschreibt das Individuum im Rückzug:

„Der Zustand ist beschrieben. Das weiße Blatt.“

Dieses Bild – ein unbeschriebenes Blatt – steht klassisch für Anfang, Offenheit, aber auch für Blockade. Doch im Text wird keine Möglichkeit des Neuanfangs daraus gewonnen. Stattdessen flüchtet sich das Denken in eine Parabel: Tommy, eine symbolische Figur, entzieht sich dem Menschlichen, flieht in die Wüste.

Die Wüste, schon bei Philosophen wie Nietzsche, Camus oder Blanchot ein Ort der existenziellen Reinigung, wird hier zum Gegenort zur Überkodierung der Gesellschaft. In der Stille, in der Hitze und Abwesenheit von Rhetorik kann Tommy „wieder besser“ atmen. Während er unter Menschen mit Wasser nicht auskam, genügt ihm in der Wüste „ein wenig“. Dies ist eine radikale Reduktion – Zurück zum Minimum des Lebens, das ausreicht, wenn es nicht durch soziale Anforderungen überfrachtet wird.

Die Erzählung verweigert Auflösung: Wir erfahren nicht, was mit Tommy genau passiert ist. Aber wir spüren, dass er von etwas erschöpft war, das mit Sprache, mit Abläufen, mit Menschen zu tun hat. Die „Freundlichkeit der Wüste“ ist keine Idylle, sondern das Gegenteil gesellschaftlicher Kommunikation – sie ist radikal unansprechbar, leer, aber ehrlich.

 

4. Konnex als Verlust und Möglichkeit

Was also ist der „Konnex“, der Titel des Textes? Der Begriff, entlehnt aus der Logik, bedeutet Zusammenhang, Verknüpfung, etwa zwischen Prämissen und Konklusionen. Doch im Text selbst geht es weniger um stabile Verbindungen als um gebrochene Übergänge, flüchtige Assoziationen, ironische Verweigerung des Zusammenhangs.

Der Text zeigt zwei Formen des Zusammenhangs:

  • den formalisierten, systemisch abgesicherten „Ablauf“ (gesellschaftliche Kommunikation)

  • und den existentiellen, fragilen „Zusammenhang“ mit sich selbst, der im Rückzug in die Wüste wiederhergestellt wird.

Beide sind prekär: Der erste ist funktional, aber inhaltsleer. Der zweite ist wahrhaftig, aber nur in der Einsamkeit möglich.

 

Fazit: Zwischen Spielfeldrand und Wüstensand

Konnex ist ein philosophischer Text, der sich dem direkten Zugriff entzieht. Seine Bedeutung liegt im Zwischenraum – zwischen Form und Inhalt, zwischen Gesellschaft und Individuum, zwischen rhetorischem Ablauf und existenzieller Stille. Der Text stellt keine These auf, sondern führt ein Denken vor, das sich seiner eigenen Bedingungen bewusst ist. Er kritisiert die Automatisierung von Kommunikation, ohne sich auf Pathos zu stützen, und beschreibt die Möglichkeit eines anderen, reduzierten Denkens – in der Wüste der Sprache, dort, wo nur „ein wenig Wasser“ reicht.

In der Tradition poststrukturalistischer Philosophie, etwa bei Jean Baudrillard oder Maurice Blanchot, wird hier nicht mehr gefragt, was ist, sondern was noch möglich ist, wenn der Zusammenhang fehlt. Konnex ist kein Konzept, sondern ein Zustand – flüchtig, poetisch, beunruhigend.