Der Text ist keine Ablehnung des Konstruktivismus, sondern ein radikaler Versuch, ihn ernst zu nehmen – bis zu seiner eigenen sprachlichen und logischen Grenze. Er fordert auf, den Begriff nicht leichtfertig zu verwenden, sondern seine Voraussetzungen kritisch zu reflektieren.
Radikaler Konstruktivismus macht nur Sinn als Auflösung der dualistischen Vorstellungen von Ich/Welt, Innen/Außen, Subjekt/Objekt usw.
Radikaler Konstruktivismus unter Beibehaltung des Dualismus ist entweder nur ein kompliziertes Filter oder endet im Solipsismus.
Der Solipsismusvorwurf an den Radikalen Konstruktivismus geht vom Dualismus aus, vom Primat der Wahrnehmung mit seiner Vorstellung von Ich/Welt, Innen/Außen, Subjekt/Objekt usw. und zeigt die Begrenztheit des dualistischen Weltverständnisses.
Der Begriff ‚Konstruktivismus‘ erweckt den Eindruck, dass aufgrund von Daten aus einer Außenwelt mittels des Nervensystems eine passende Innenwelt konstruiert wird, dass es demnach doch wieder nur um das passive Aufnehmen von Reizen aus der Umwelt geht, aus denen anschließend aktiv die innere Realität konstruiert wird, dass der Dualismus aufrechterhalten wird.
Doch was wird eigentlich konstruiert? Das Wahrgenommene? Das Ich? Ein Abbild der Außenwelt? Bewusstsein?
Unter der Prämisse, dass nicht vom Dualismus ausgegangen werden soll, sind obige Fragen unsinnig.
Mit dem Wort ‚Konstruktivismus‘ hat man sich keinen Gefallen getan. Da kann auch das Adjektiv ‚radikal‘ nichts mehr retten.
Doch wie drückt man etwas in einer, auf dem Primat der Wahrnehmung beruhenden Sprache aus, etwas, das die elementarste Grundlage dieser Sprache nicht teilt?
Analyse
In dem knappen, aber dichten Text „Anmerkungen Konstruktivismus“ wird ein Problem angesprochen, das jede erkenntnistheoretische Position betrifft, die sich jenseits traditioneller Subjekt-Objekt-Dichotomien bewegen möchte: Wie spricht man über eine Wirklichkeit, ohne dabei unweigerlich die sprachlich vermittelten Kategorien von Innen und Außen, Ich und Welt, Subjekt und Objekt zu reproduzieren?
Der Text analysiert den radikalen Konstruktivismus, eine erkenntnistheoretische Position, die sich von der Idee verabschiedet, dass es eine objektiv erkennbare Welt „da draußen“ gibt. Stattdessen, so Vertreter wie Ernst von Glasersfeld oder Heinz von Foerster, konstruiert jedes kognitive System seine Realität aktiv – und nicht durch passives „Abbilden“ der Außenwelt. Doch genau darin, so der Text, liegt das eigentliche Dilemma: Der Begriff „Konstruktivismus“ ist sprachlich wie konzeptuell vom Dualismus kontaminiert.
1. Dualismus als erkenntnistheoretische Falle
Die zentrale Kritik lautet:
„Radikaler Konstruktivismus macht nur Sinn als Auflösung der dualistischen Vorstellungen von Ich/Welt, Innen/Außen, Subjekt/Objekt.“
Diese Aussage trifft einen wunden Punkt der modernen Erkenntnistheorie. Der klassische Dualismus – etwa bei Descartes oder im kritischen Rationalismus – trennt zwischen einem erkennenden Subjekt und einer erkannten Welt. Diese Trennung wird in der Alltagssprache und der wissenschaftlichen Beschreibung oft unreflektiert reproduziert. Der radikale Konstruktivismus will genau diese Trennung überwinden, bleibt jedoch oft sprachlich und begrifflich im gleichen Rahmen gefangen.
So wird der radikale Konstruktivismus manchmal fehlgedeutet als Modell, bei dem das Gehirn aus Umweltreizen „Konstruktionen“ formt – was letztlich nur eine verschobene Version des klassischen Repräsentationalismus ist. Damit bleibt der Dualismus – wenn auch transformiert – bestehen.
2. Solipsismusvorwurf und seine Fehlannahmen
Im Text heißt es:
„Der Solipsismusvorwurf an den Radikalen Konstruktivismus geht vom Dualismus aus […].“
Der klassische Vorwurf gegen den Konstruktivismus lautet: Wenn jeder nur seine eigene Realität konstruiert, dann leben wir alle in privaten Welten – das ist Solipsismus, also die Vorstellung, nur das eigene Bewusstsein existiere. Doch dieser Vorwurf verkennt die Intention des radikalen Konstruktivismus: Es geht nicht um Abkapselung, sondern um die Relativierung epistemischer Zugänge zur Welt.
Wie der Text richtig bemerkt, ist der Solipsismusvorwurf selbst ein Produkt des dualistischen Denkens – er setzt voraus, dass es „eine“ Welt gäbe, die wir entweder gemeinsam erkennen oder verloren haben. Der radikale Konstruktivismus hingegen löst genau diese Vorstellung auf, zugunsten einer dynamischen, systemintern generierten Wirklichkeitsproduktion – ein Ansatz, der z.B. auch in der autopoietischen Systemtheorie von Maturana und Varela eine Rolle spielt.
3. Kritik am Begriff ‚Konstruktivismus‘
Ein weiterer zentraler Punkt:
„Mit dem Wort ‚Konstruktivismus‘ hat man sich keinen Gefallen getan.“
Diese kritische Einschätzung zielt auf die sprachlich-missverständliche Metaphorik des Konstruktivismus. Das Wort „Konstruktion“ suggeriert ein aktives Subjekt, das aus verfügbaren Rohstoffen – etwa Sinneseindrücken – eine Welt „baut“. Dies verführt zur Re-Installierung des dualistischen Rahmens, den der Ansatz eigentlich überwinden wollte. Selbst das Adjektiv „radikal“ kann diesen Widerspruch nicht heilen, sondern verstärkt ihn möglicherweise noch, indem es das „Konstruktive“ zu einem Extremfall steigert.
Der Text stellt daher die entscheidende Frage:
„Was wird eigentlich konstruiert? Das Wahrgenommene? Das Ich? Ein Abbild der Außenwelt? Bewusstsein?“
Diese Fragen sind nur innerhalb eines dualistischen Systems sinnvoll – eines Systems, das zwischen Wahrnehmung und Objekt unterscheidet. Der Text argumentiert daher logisch korrekt: Nimmt man den Konstruktivismus ernst, muss man den Dualismus aufgeben – und damit auch diese Fragen.
4. Das Sprachparadox des Konstruktivismus
Die Reflexion endet mit einem erkenntnistheoretischen Paradoxon:
„Doch wie drückt man etwas in einer, auf dem Primat der Wahrnehmung beruhenden Sprache aus, das die elementarste Grundlage dieser Sprache nicht teilt?“
Hier nähert sich der Text einem Grundproblem philosophischer Metasprache: Wie kann ein System sich selbst vollständig beschreiben? Wie kann man transrationale, nicht-dualistische Erkenntnisse in eine Sprache kleiden, die selbst dualistisch strukturiert ist?
Diese Frage erinnert an den späten Wittgenstein (Philosophische Untersuchungen), der feststellte, dass Bedeutung durch Gebrauch entsteht, nicht durch innere Repräsentation. Wenn aber der Gebrauch der Sprache auf einer bestimmten Weltsicht (z.B. der der Subjekt-Objekt-Trennung) basiert, dann ist es extrem schwer, Alternativen auszudrücken, ohne sich selbst zu widersprechen.
Auch Niklas Luhmann, der stark von konstruktivistischem Denken geprägt war, thematisiert das Problem: Beobachter können sich selbst nicht vollständig beobachten, sie sind immer Teil des Systems, das sie zu beschreiben versuchen.
Fazit: Ein Konstruktivismus, der über sich selbst hinausdenkt
Der Text „Anmerkungen Konstruktivismus“ ist keine Ablehnung des Konstruktivismus, sondern ein radikaler Versuch, ihn ernst zu nehmen – bis zu seiner eigenen sprachlichen und logischen Grenze. Er fordert auf, den Begriff nicht leichtfertig zu verwenden, sondern seine Voraussetzungen kritisch zu reflektieren. Wenn Konstruktivismus wirklich mehr sein will als erkenntnistheoretischer Relativismus, dann muss er den Mut haben, die Sprache selbst zu hinterfragen – oder neue Ausdrucksformen zu suchen.
Ob das gelingt, ist offen. Doch vielleicht liegt die Lösung nicht in besseren Begriffen, sondern in einer veränderten Praxis des Denkens: nicht mehr festhaltend, sondern tastend, nicht mehr beschreibend, sondern resonierend.
Philosophische Bezugspunkte:
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Ernst von Glasersfeld – Radikaler Konstruktivismus
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Heinz von Foerster – Beobachter zweiter Ordnung
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Maturana/Varela – Autopoiesis und Systemtheorie
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Wittgenstein – Sprachspiele und die Grenzen der Sprache
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Niklas Luhmann – Beobachtung, Paradoxie, Systemtheorie
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Maurice Merleau-Ponty – Leib und Wahrnehmung jenseits von Subjekt/Objekt