Kunst und Kompliziertheit

Der Vortrag ist eine persönliche, ironische und doch tiefgreifende Auseinandersetzung mit dem menschlichen Erkenntnisvermögen. Zwischen epistemologischer Reduktion, Komplexitätskritik, Kunstentwertung und implizitem Konstruktivismus entfaltet sich ein Panorama moderner Weltverunsicherung – jedoch nicht resignativ, sondern reflektierend und selbstbewusst.


Liebe Zuhörer!

  

Willkommen zum heutigen "Mal sehen, was der jetzt schon wieder erzählt..." Event. Und tatsächlich bin ich etwas hin- und hergerissen zwischen zwei Themen, die, Sie ahnen es, doch so stark zusammenhängen, dass sie sich nur schwerlich getrennt behandeln lassen. Das ist nicht neu. Schon öfter wurde erwähnt, dass es hier immer nur um ein- und dasselbe geht, nämlich um die Art und Weise unserer Existenz und die blinden Flecken, die sich daraus ergeben. Schließlich können wir unsere Existenz nicht aus der Sicht einer übergeordneten Instanz betrachten. Was uns zur Verfügung steht, das sind einzig wir selbst. Das ist gesprochen unter Zuhilfenahme eines ganz brauchbaren Nervensystems, mein Immunsystem, oder mein Verdauungssystem sehen das vielleicht ähnlich, doch glaube ich, dass die beiden sich einfach nicht so viele Gedanken darüber machen, wo alles herkommt und auch wieder hingeht. Die machen einfach ihren Job, und darüber bin ich froh. Was keineswegs heißen soll, dass das Machen von zu vielen Gedanken eine Fehlfunktion ist. Doch zurück zum Thema, und das soll sein dieses "weil wir es eben selbst sind". Nun ist es erst einmal so, dass man sich keineswegs so viele Gedanken machen muss und daher sagen kann, dass die Welt wohl exakt so sein muss wie dasjenige, was innerhalb der Grenzen meines Selbst liegt. Man beginnt mit einer Reduktion, jedoch ohne es zu wissen. Wie sollte man auch davon wissen? Und um nun die entstandene Lücke zu füllen zwischen den Phänomenen der Wirklichkeit und dem reduzierten Selbst- und Weltverständnis, ist man gezwungen, entsprechende Modelle zu entwickeln. Willkommen in den Abgründen der wahrnehmungsbasierten Weltanschauungen! Erkennen kann man die Vertreter dieser Richtungen daran, dass sie das Ergebnis der Reduktion entweder mit etwas Mystischem vervollkommnen wollen, um letztlich wieder das große Ganze zu erreichen, oder, und das ist hierzulande der Mainstream, sie behaupten, dass das Reduzierte so extrem kompliziert sei, dass wir im Moment einfach noch nicht in der Lage sind, die Sache zu verstehen. Hier ist die Wissenschaft gefragt. Und im Bemühen, Komplexität mittels Kompliziertheit zu erreichen, wurden zweifellos unglaubliche Erkenntnisse erzielt und in Anwendung gebracht. Nun gibt es Phänomene, die sich der wissenschaftlichen Analyse und Modellbildung hartnäckig zu widersetzen scheinen, wie beispielweise die sogenannte Kunst. Ich kann dazu nur sagen, dass Kunst für mich jegliche Faszination verloren hat. Und damit meine ich diejenige Faszination, die sich zwangsweise ergibt aus dieser Kompliziertheitsweltsicht. Und je mehr eine Gesellschaft dem Kompliziertheitsansatz nachhängt, desto größer ist der Bedarf an Kompensation, beispielsweise durch eine übertrieben anmutende Wertschätzung der Kunst. Wie gesagt, ich habe auch mal so gedacht. Mit der Überwindung der wahrnehmungsbasierten Weltsicht hat sich das erledigt. Ein kleiner Nebeneffekt. Sehr interessant. Das war so nicht abzusehen. Das zweite Thema, dass ich besprechen wollte, war irgendetwas mit Konstruktivismus. Das müssen wir leider auf später verschieben. Vielen Dank und eine gute Nacht!

Analyse

In dem Vortrag entfaltet sich eine tiefgehende Reflexion über das Wesen menschlicher Erkenntnis. Der Redner bewegt sich zwischen Philosophie, Erkenntnistheorie und Kulturkritik und führt seine Zuhörerschaft durch die Abgründe einer Welt, die durch die Grenzen unserer eigenen Wahrnehmung bedingt ist. Dabei verknüpft er auf eigentümlich persönliche Weise scheinbar disparate Themen wie das Verhältnis von Subjektivität zur Realität, den erkenntnistheoretischen Reduktionismus, die Rolle der Wissenschaft und die gesellschaftliche Überhöhung von Kunst.

 

1. Die Begrenztheit des Selbst als epistemisches Ausgangsproblem

Im Zentrum des Vortrags steht die erkenntnistheoretische Einsicht, dass wir unsere Existenz nur aus einer innenperspektivischen Sicht begreifen können – „wir selbst sind das Einzige, was uns zur Verfügung steht“. Diese fundamentale Begrenzung bedeutet, dass es uns prinzipiell verwehrt bleibt, unsere Wirklichkeit aus einer „übergeordneten Instanz“ heraus zu betrachten. Das erinnert an klassische erkenntnistheoretische Positionen, wie sie etwa Immanuel Kant in seiner Unterscheidung zwischen Ding an sich und Erscheinung beschreibt: Wir haben keinen Zugang zur Welt „an sich“, sondern stets nur zu der Welt, wie sie uns erscheint – vermittelt durch unsere Sinnesorgane und kognitiven Strukturen.

Der Redner beschreibt diesen Umstand mit einem gewissen Sarkasmus und einer kritischen Distanz: Während das Nervensystem „ganz brauchbar“ sei, machen sich Immunsystem und Verdauung „einfach nicht so viele Gedanken“ über Sinn und Ursprung der Welt. Diese anthropomorphisierende Darstellung biologischer Systeme ist nicht bloß rhetorischer Humor – sie verdeutlicht, dass Denken selbst ein Spezialfall innerhalb eines größeren Systems ist. Daraus folgt keine Geringschätzung des Denkens, sondern vielmehr eine Relativierung seiner Möglichkeiten.

 

2. Reduktion als unbewusste epistemische Voraussetzung

Ein zentrales Argument des Vortrags besteht darin, dass unser Weltverständnis notwendig mit einer Reduktion beginnt – „man beginnt mit einer Reduktion, jedoch ohne es zu wissen“. Diese These erinnert stark an konstruktivistische Positionen, etwa bei Ernst von Glasersfeld oder Humberto Maturana, die betonen, dass Wissen nicht Abbild der Realität ist, sondern Konstruktion des Beobachters. Der Mensch konstruiert sich seine Wirklichkeit basierend auf einem reduzierten Zugang zur Welt – vermittelt durch Sprache, Wahrnehmung, Kultur und individuelle Prägung.

Da diese Reduktion jedoch unvollständig bleibt, entstehen Lücken zwischen subjektivem Weltbild und objektiv erfahrbarer Realität. Um diese zu füllen, entwickelt der Mensch Modelle – theoretische, religiöse oder künstlerische Konstrukte, die das große Ganze rekonstruieren sollen. In den Worten des Redners: „Willkommen in den Abgründen der wahrnehmungsbasierten Weltanschauungen!“

 

3. Zwei Reaktionsmuster auf die epistemische Lücke: Mystik oder Wissenschaft

Hier trennt der Redner zwei Grundhaltungen, die in Reaktion auf die epistemische Lücke entstehen: die mystische Vervollständigung und den wissenschaftlichen Komplexitätsansatz. Erstere sucht die Ganzheit im Transzendenten – im Religiösen, im Spirituellen oder im Metaphysischen. Letztere hingegen verkompliziert das Reduzierte bis zur Unverständlichkeit – in der Hoffnung, dass das Verständnis mit wachsender Kompliziertheit irgendwann zurückkehrt.

Der Redner bleibt dabei ambivalent. Einerseits gesteht er der Wissenschaft „unglaubliche Erkenntnisse“ zu, andererseits kritisiert er die Tendenz, Komplexität mit Kompliziertheit zu verwechseln. Diese Kritik erinnert an Niklas Luhmanns Systemtheorie, die klar unterscheidet zwischen Komplexität (Vielfalt möglicher Zustände) und Kompliziertheit (Unübersichtlichkeit durch Detailfülle). Die wissenschaftliche Rationalität kann also als Versuch verstanden werden, komplexe Systeme durch lineare, detailverliebte Modelle zu erklären – oft unter Vernachlässigung emergenter Eigenschaften.

 

4. Kunst als Kompensation – und ihre Entwertung

In einer bemerkenswerten Wendung äußert der Redner schließlich seinen Verlust an Faszination gegenüber der Kunst. Diese sei für ihn nicht mehr interessant, zumindest nicht aus der Perspektive der „Kompliziertheitsweltsicht“, die er zuvor kritisiert hat. Damit stellt er die These auf, dass in Gesellschaften, die dem wissenschaftlichen Kompliziertheitsparadigma anhängen, Kunst zu einer Art Kompensation wird – als Gegenpol zur kognitiven Überforderung, als Projektionsfläche für das Unsagbare.

Doch mit der eigenen Überwindung der „wahrnehmungsbasierten Weltsicht“ habe sich auch der Stellenwert der Kunst erledigt – „ein kleiner Nebeneffekt“, so der Redner. Diese radikale These erinnert an Positionen wie die von Jean Baudrillard, der von der „Simulation“ spricht: Kunst wird nicht mehr als authentischer Ausdruck, sondern als ästhetisierte Leerstelle der Gesellschaft verstanden. Der Redner geht sogar noch einen Schritt weiter: Für ihn ist Kunst lediglich ein Symptom epistemischer Kompensation – und damit letztlich entwertet.

 

5. Konstruktivismus als verschobenes Thema – oder das eigentliche Zentrum?

Am Ende erwähnt der Redner lakonisch, dass er eigentlich über Konstruktivismus sprechen wollte – doch das müsse verschoben werden. Dieser scheinbar nebensächliche Satz entlarvt sich bei näherer Betrachtung als das eigentliche Zentrum des Vortrags. Denn was sonst wurde hier betrieben, wenn nicht eine tiefgehende, konstruktivistische Analyse des menschlichen Weltverhältnisses?

Der Verzicht auf eine explizite Erörterung des Konstruktivismus ist damit vielleicht ein ironisches Spiel: Indem der Begriff ausgeklammert wird, wird seine Bedeutung umso deutlicher. Der Vortrag ist eine konstruktivistische Meditation über Erkenntnis, Wahrnehmung und gesellschaftliche Phänomene – und dies in einer Form, die auf klassische akademische Systematik bewusst verzichtet.

 

Fazit

Der Vortrag ist eine persönliche, ironische und doch tiefgreifende Auseinandersetzung mit dem menschlichen Erkenntnisvermögen. Zwischen epistemologischer Reduktion, Komplexitätskritik, Kunstentwertung und implizitem Konstruktivismus entfaltet sich ein Panorama moderner Weltverunsicherung – jedoch nicht resignativ, sondern reflektierend und selbstbewusst. Vielleicht, so könnte man mit dem Redner sagen, ist die Erkenntnis, dass wir selbst der Ursprung aller Konstruktionen sind, der erste Schritt zu einer weniger verstellten Sicht auf Welt und Wirklichkeit.

 

Verweise (Auswahl):

  • Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, 1781.

  • Glasersfeld, Ernst von: Radikaler Konstruktivismus, 1996.

  • Maturana, Humberto / Varela, Francisco: Der Baum der Erkenntnis, 1984.

  • Luhmann, Niklas: Soziale Systeme, 1984.

  • Baudrillard, Jean: Simulacres et Simulation, 1981.