Der Dialog ist eine dichte Reflexion über die Grenze der Vernunft und die Unverzichtbarkeit des Mythos. Er entlarvt das Vertrauen auf den Logos als eine pragmatische Strategie – hilfreich zur Orientierung, aber letztlich unfähig, die Tiefe des Lebendigen zu fassen, aus dem er hervorgegangen ist. Indem der Text diese Einsicht in einfache Sprache und dialogische Form bringt, knüpft er an sokratische Philosophie an: Er fragt, ohne endgültig zu beantworten.
Wo lebst du?
In der Wirklichkeit.
Was steht dir zur Verfügung?
Mein individueller Logos.
Ganz schön eingeschränkt.
In Bezug auf die Wirklichkeit ist das richtig. Doch kann ich den Logos mittels Sprache beliebig erweitern.
Eingeschränkt und doch unendlich?
So ist es.
Was ist diese Einschränkung?
Das Lebendige, als das eine und einzige Prinzip der Wirklichkeit.
Das kann der Logos nicht verstehen?
Das Produkt kann seine Entstehung nicht verstehen. Doch braucht es eine Erklärung.
Und wie sieht die aus?
Man nennt sie Mythos.
Nicht jeder akzeptiert den Mythos.
Richtig. Diejenigen versuchen alles mittels des Logos zu erklären.
Ob man den Mythos akzeptiert oder nicht, ist also gar nicht das Problem?
Das Problem ist das Setzen des Logos als Ausgangspunkt.
Warum tut man das?
Der Logos ist das Produkt der Aktivität des Nervensystems in der Welt, um in der Welt zurechtzukommen. Nur ist Zurechtkommen in der Welt nicht die Wirklichkeit.
Wohl wahr.
Analyse
„Wo lebst du?“ – Die erste Frage im Dialog „Wirklichkeit und Logos“ scheint banal, doch sie führt den Leser sofort ins Zentrum eines philosophischen Problems: Was ist Realität – und wie greifen wir auf sie zu? Die Antwort „In der Wirklichkeit“ bleibt zunächst tautologisch und leer. Erst die folgende Aussage bringt Schärfe: „Was steht dir zur Verfügung? – Mein individueller Logos.“ Mit dieser Wendung beginnt eine philosophische Erörterung, die die westliche Trennung zwischen Erkenntnis (Logos) und Sein (Wirklichkeit) radikal hinterfragt.
1. Logos als Zugang – aber nicht als Ursprung
In der Tradition der griechischen Philosophie bezeichnete der Logos zunächst das Wort, die Rede, später auch Vernunft oder Gesetzmäßigkeit. Bei Heraklit ist der Logos ein Prinzip, das Welt und Denken durchdringt. Bei Platon wird er zur Ordnungskraft, die das sinnlich Wahrnehmbare mit dem Ewigen verbindet. In der Neuzeit wird er im Rahmen der Aufklärung zur reinen Vernunft (Kant) und schließlich im Rationalismus zur alleinigen Grundlage von Wahrheit.
Im Text von Proemial hingegen wird der Logos nicht als objektive Wahrheit, sondern als individuelles, neurologisch erzeugtes Werkzeug beschrieben: „Der Logos ist das Produkt der Aktivität des Nervensystems in der Welt, um in der Welt zurechtzukommen.“ Damit wird er entzaubert – und zurückgeführt auf seine biologische Grundlage. Erkenntnis wird nicht als objektiver Spiegel der Welt verstanden, sondern als funktionale Adaption an Umweltbedingungen.
Diese Sicht erinnert an evolutionäre Erkenntnistheorie (z. B. Gerhard Vollmer), aber auch an die Phänomenologie Edmund Husserls, der betont, dass unser Bewusstsein immer intentional ist – also nicht die Dinge „an sich“ erfasst, sondern sie durch sinnstiftende Akte konstituiert.
2. Die Grenze des Logos: Das Lebendige
Der zentrale Bruch im Dialog findet statt, als der Logos an seine Grenze stößt. „Das Produkt kann seine Entstehung nicht verstehen“ – dieser Satz erinnert an Niklas Luhmanns Systemtheorie (Soziale Systeme, 1984), in der ein System seine Umwelt nicht vollständig erfassen kann, sondern nur über strukturell gekoppelte Operationen zugänglich macht. Ebenso verweist der Text auf eine klassische erkenntnistheoretische Figur: Die Vernunft kann nicht ihre eigenen Ursprünge restlos durchdringen.
Was liegt jenseits des Logos? Im Text ist es „das Lebendige“, das „eine und einzige Prinzip der Wirklichkeit“. Diese Formulierung stellt das Leben – nicht Geist oder Materie – in den Mittelpunkt des Realen. Damit entfernt sich der Text von metaphysischen oder idealistischen Weltzugängen und nähert sich eher einem vitalistischen Weltbild an, wie man es z. B. bei Henri Bergson (L’Évolution créatrice, 1907) oder Friedrich Nietzsche findet: Leben ist nicht vollständig rational erfassbar, sondern schöpferisch, unberechenbar, mythisch.
3. Mythos als Erklärung – nicht als Rückfall
Die Wendung zur Erklärung lautet: „Man nennt sie Mythos.“ Der Begriff des Mythos wird hier rehabilitiert. Anders als in der Aufklärung, wo Mythos als irrationaler Gegensatz zum Logos galt (z. B. in Kant oder Voltaire), wird er hier als notwendiger Bestandteil menschlicher Welterfahrung verstanden. Er tritt dort auf, wo der Logos scheitert, weil er selbst das Produkt einer lebendigen Welt ist, die er zu erklären versucht.
Dieser Gedanke findet Parallelen bei Hans Blumenberg, der in Arbeit am Mythos (1979) argumentiert, dass Mythen nicht bloß primitive Vorformen von Wissenschaft seien, sondern spezifische Antworten auf existenzielle Unerklärlichkeiten. Auch Ernst Cassirer sieht im Mythos eine eigenständige symbolische Form des Weltzugangs (Die Philosophie der symbolischen Formen, 1923–29).
Im Dialog heißt es: „Nicht jeder akzeptiert den Mythos.“ – doch das sei gar nicht das Problem. Das eigentliche Problem sei das „Setzen des Logos als Ausgangspunkt“. Dies ist eine klare Kritik am Rationalismus: Wer den Logos zum absoluten Anfang macht, läuft Gefahr, seine eigene Bedingtheit zu übersehen – nämlich, dass er aus dem Leben, aus der Erfahrung, aus der Körperlichkeit hervorgeht.
4. Philosophische Konsequenzen: Jenseits des Reduktionismus
Der Text plädiert nicht für die Ablehnung von Vernunft, sondern für ihre Einordnung in einen größeren Zusammenhang. Indem er den Logos als relativ und individualisiert erkennt, öffnet er den Raum für ein pluralistisches Wirklichkeitsverständnis – eines, das sowohl rationale Erklärung als auch narrative, mythische, symbolische Deutungen zulässt.
Darin liegt eine postmoderne Haltung, die etwa bei Jean-François Lyotard (Das postmoderne Wissen, 1979) Ausdruck findet: Die „großen Erzählungen“ (Meta-Narrative) des Rationalismus verlieren ihre Deutungsmacht. Übrig bleibt ein Feld unterschiedlicher Sprachspiele, in denen sowohl Logos als auch Mythos ihren Platz haben – aber nicht mehr als absolute Maßstäbe.
Fazit: Zwischen Logos und Leben
Der Dialog „Wirklichkeit und Logos“ ist eine dichte Reflexion über die Grenze der Vernunft und die Unverzichtbarkeit des Mythos. Er entlarvt das Vertrauen auf den Logos als eine pragmatische Strategie – hilfreich zur Orientierung, aber letztlich unfähig, die Tiefe des Lebendigen zu fassen, aus dem er hervorgegangen ist. Indem der Text diese Einsicht in einfache Sprache und dialogische Form bringt, knüpft er an sokratische Philosophie an: Er fragt, ohne endgültig zu beantworten.
Die Pointe liegt in der letzten Aussage: „Nur ist Zurechtkommen in der Welt nicht die Wirklichkeit.“ – Das ist eine philosophische Entlarvung all jener Denkweisen, die Rationalität mit Wahrheit gleichsetzen. Die Wirklichkeit bleibt mehr als das, was man sich von ihr erklären kann.
Literaturhinweise:
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Heraklit: Fragmente (ca. 500 v. Chr.)
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Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos, 1979
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Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 2: Mythisches Denken, 1925
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Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, 1872
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Henri Bergson: L’évolution créatrice, 1907
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Niklas Luhmann: Soziale Systeme, 1984
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Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen, 1979
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Gerhard Vollmer: Evolutionäre Erkenntnistheorie, 1975
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Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie, 1913