Das Los von Belang

Ein subversiver, ironisch-leiser Text über das, was unser Leben tatsächlich ausmacht: nicht die Höhepunkte, nicht die großen Erkenntnisse, sondern die unzähligen belanglosen Momente dazwischen. Der Text fordert nicht auf zur Revolte gegen das Belanglose, sondern zur freundlichen Annahme seiner Allgegenwart. 

Was würdest du ziehen, wenn du könntest?

 

Ich denke mal, ich würde ein Belanglos ziehen. Garantiert kein Gewinn. So soll es sein. Ich ziehe immer nur Belanglose. Und bin noch nie enttäuscht worden. Nie wurde zuviel versprochen. Da kann man sich wirklich nicht beschweren. Die Erfindung des Belangloses ist für mich das Größte überhaupt. Man kann gar nichts Besseres tun, als schon möglichst früh, also im frühesten Kindesalter, mit dem Ziehen der Belanglose anzufangen. Und dann einfach immer weitermachen. Weiter und weiter und weiter. Denn es scheint ja wohl so zu sein, dass der Vorrat an Belanglosen nie erschöpft ist. Warum ist das eigentlich so? Hast du schon mal darüber nachgedacht? Das fällt mit erst jetzt auf. Hier und jetzt während unseres tiefgreifenden Gespräches fällt mir das auf. Warum ist mir das vorher nie aufgefallen? Ich weiß, was du sagen willst. Ich hatte eben noch nie so ein tiefgreifendes Gespräch wie dieses hier geführt. Und damit könntest du sogar recht haben. Ganz sicher hast du recht damit. Denn normalerweise kann ich mich sehr gut an tiefgreifende Gespräche erinnern. An jeden einzelnen Satz, der gesprochen wurde. Manchmal kam mir der Griff in die Tiefe sogar schon ein wenig übertrieben tief vor. Kannst du dir das vorstellen? Du fängst eine nette, kleine Unterhaltung an, doch dann geht es immer tiefer und tiefer. Jeder versucht ständig ein klein wenig tiefer zu greifen als der Vorredner. Am Ende liegen alle auf dem Boden und greifen so tief sie nur können. Und das wirklich Schöne daran ist, mit ein klein wenig Glück hast du eine richtig gute Stelle für deinen Tiefengriff erwischt und förderst zu Tage... Na? Was wohl? Genau! Ein Belanglos! Ein richtig großes Belanglos. Nicht jeder zieht in seinem Leben das große Belanglos. Meistens schlägt man sich ja so durch mit den vielen kleinen Belanglosen, die überall zu finden sind und irgendwie nie auszugehen scheinen. Warum ist das eigentlich so? Die Frage hatte ich dir vorhin schon gestellt, und du hattest sie nicht beantwortet. Vermutlich wirst du sie auch diesmal nicht beantworten. Denn schließlich kann nur das richtige Belanglos auch die korrekte Antwort liefern. Insofern muss ich dir völlig recht geben. Du hast genau das Richtige getan. Und ich habe auch nichts anderes erwartet. Gut. Das war ein kleiner Ausflug in die Welt der Belanglose. Ganz im Sinne deiner eingangs gestellten Frage. Und zwar als erste mögliche Antwortoption. Einverstanden?

 

Perfekt. Genau was ich erhofft hatte. Vielen Dank und eine gute Nacht!

Analyse

 

Im Text „Das Los von Belang“ wird das scheinbar Unwichtige – das Belanglose – in einer Weise gewürdigt, die im Kontrast zur gegenwärtigen Kultur der Selbstoptimierung, Tiefenbedeutung und Gewinnorientierung steht.

Statt nach Sinn, Tiefe oder Erfolg zu streben, bekennt sich die Sprecherfigur zu einer Form des Lebens, die sich ganz dem belanglosen Ziehen, dem sinnfreien Fortgang, der unaufgeregten Existenz widmet. Dabei wird das Belanglose keineswegs als Defizit begriffen, sondern als eine subversive Strategie gegen Überhöhung, Erwartung und Enttäuschung.

Der Text steht in der Tradition einer philosophischen Anti-Haltung, wie sie sich z.B. in den Schriften von Albert Camus, Thomas Bernhard, aber auch Byung-Chul Han oder Ludwig Wittgenstein erkennen lässt: Das Wertvolle liegt oft nicht in dem, was tief oder bedeutungsschwer ist – sondern gerade in dem, was sich der Deutung entzieht.

 

1. Die Macht des Erwartungslosen

Der Text beginnt mit einer scheinbar banalen Frage:

„Was würdest du ziehen, wenn du könntest?“

Statt nach einem Gewinn, einem Schatz oder einer tiefen Wahrheit zu streben, antwortet die Figur:

„Ich würde ein Belanglos ziehen. Garantiert kein Gewinn.“

Diese Antwort wirkt zunächst resignativ, ist aber bei näherem Hinsehen emanzipatorisch. Wer nichts erwartet, kann nicht enttäuscht werden. Das Leben wird nicht mehr als Lotterie, sondern als kontinuierlicher Strom des Belanglosen verstanden – weder dramatisch noch glorreich, aber auch nicht tragisch.

In einer Welt, die auf Maximierung ausgerichtet ist – sei es von Produktivität, Erkenntnis oder Erlebnis – ist das bewusste Ziehen des Belanglosen eine Form von Rebellion. Der Text spielt dabei mit der paradoxen Erkenntnis: Gerade im Belanglosen liegt eine tiefe Gelassenheit.

 

2. Die Überforderung durch Tiefe

Ein zentrales Motiv im Text ist die ironisch zugespitzte Darstellung von Gesprächen, die sich immer tiefer graben, getrieben vom Wunsch, „mehr“ oder „tiefer“ zu sein:

„Jeder versucht ständig ein klein wenig tiefer zu greifen als der Vorredner. Am Ende liegen alle auf dem Boden und greifen so tief sie nur können.“

Dieser absurde Wettlauf in die Tiefe – eine Art philosophisches Armdrücken der Tiefe – entlarvt den Zwang zur Bedeutsamkeit. In vielen Diskursen, auch in der Philosophie selbst, gilt Tiefe als Qualitätsmerkmal. Doch der Text stellt diese Vorstellung infrage: Was, wenn man tief gräbt – und dort lediglich ein Belanglos findet?

Hier klingt eine Kritik an der performativen Tiefe an, wie sie z. B. auch in David Foster Wallace’ Essays thematisiert wird: Der Druck, ständig etwas Bedeutendes zu sagen, erzeugt genau das Gegenteil – eine Sinnübersättigung, die letztlich leer ist.

 

3. Die Endlosigkeit des Belanglosen

„Denn es scheint ja wohl so zu sein, dass der Vorrat an Belanglosen nie erschöpft ist.“

Diese Feststellung wirkt wie eine Beobachtung über das Material des Daseins selbst. Das Belanglose ist unerschöpflich – es ist das, was „immer da“ ist, was den Alltag strukturiert, ohne ihn zu überhöhen.

Hier schimmert eine beinahe buddhistische Haltung durch: In der Akzeptanz des Unbedeutenden liegt der Schlüssel zur inneren Ruhe. Statt dem Großen, dem Unwahrscheinlichen nachzujagen, richtet sich der Blick auf das, was ohnehin vor einem liegt – und nimmt es an.

Auch Wittgenstein sprach davon, dass die „Lösungen philosophischer Probleme“ oft in der richtigen Sichtweise des Alltäglichen liegen – nicht in der Tiefe, sondern im Offensichtlichen.

 

4. Die paradoxe Tiefe des Belanglosen

Ironischerweise bringt gerade der Verzicht auf Bedeutung eine unerwartete Tiefe hervor:

„Mit ein klein wenig Glück hast du eine richtig gute Stelle für deinen Tiefengriff erwischt und förderst zu Tage… Na? Was wohl? Genau! Ein Belanglos!“

Hier kulminiert der Text in einem poetischen Bild: Selbst die tiefste Bohrung bringt nur ein Belanglos hervor – und genau das ist gut so. Das große Belanglos ist nicht Nichts, sondern etwas anderes als Bedeutung: eine Kategorie jenseits von Sinn, aber voller Lebendigkeit.

So erhält das Belanglose in seiner vermeintlichen Leere eine fast metaphysische Qualität. Es ist der Stoff, aus dem unser ganzes Leben besteht – wenn man nur genau hinsieht.

 

5. Die Dialogstruktur: Eine Einladung zur Zustimmung

Der Text ist als Gespräch inszeniert, das in der abschließenden Zeile mündet:

„Perfekt. Genau was ich erhofft hatte.“

Diese Wendung verleiht dem Text eine subtile Wärme. Die Akzeptanz des Belanglosen ist keine Kapitulation, sondern eine stille Übereinkunft, ein Pakt zwischen Denkenden, die sich der Aufdringlichkeit von Sinn verweigern – nicht aus Nihilismus, sondern aus Leichtigkeit und Humor.

Diese Haltung erinnert an Lichtenbergs Aphorismen, in denen große Einsichten oft in beiläufige Bemerkungen gekleidet sind – scheinbar belanglos, in Wahrheit jedoch höchst aufrüttelnd.

 

Fazit: Das Belanglose als philosophische Reife

„Das Los von Belang“ ist ein subversiver, ironisch-leiser Text über das, was unser Leben tatsächlich ausmacht: nicht die Höhepunkte, nicht die großen Erkenntnisse, sondern die unzähligen belanglosen Momente dazwischen.

Der Text fordert nicht auf zur Revolte gegen das Belanglose, sondern zur freundlichen Annahme seiner Allgegenwart. Darin liegt eine Weisheit, die oft übersehen wird: Wer das Belanglose annehmen kann, hat sich vom Zwang zur Bedeutung befreit – und vielleicht dadurch etwas Tieferes gefunden als Tiefe selbst.

 

Philosophische Verweise:

  • Albert CamusDer Mythos des Sisyphos: Der Mensch im Angesicht der Absurdität

  • David Foster WallaceE Unibus Pluram: Die Überforderung durch Tiefensignale

  • Byung-Chul HanDie Austreibung des Anderen: Kritik an Selbstinszenierung und Tiefe

  • Ludwig WittgensteinPhilosophische Untersuchungen: Bedeutung liegt in der Verwendung, nicht in der Tiefe

  • Georg Christoph Lichtenberg – Aphorismen: Tiefsinn in Alltagsbanalitäten