User 442993686

Ein dichter, experimenteller Text über den inneren Imperativ schöpferischer Vorstellungskraft im Zeitalter ihrer algorithmischen Umsetzung. Der User steht exemplarisch für den kreativen Menschen im digitalen Zeitalter: isoliert, präzise, technologieabhängig und zugleich auf geheimnisvolle Weise autonom.

Er hatte eine sehr genaue Vorstellung. User 442993686 wusste exakt, wie das Ergebnis aussehen sollte, oder vielmehr, wie es sich anhören sollte. Wohingegen das Vorwissen unseres Users, betreffend der Erzeugung des Resultats, nicht sonderlich ausgeprägt war. Er wusste gerade einmal, dass es möglicherweise, sicher war er sich nicht, notwendig war, zum richtigen Zeitpunkt die richtige Taste zu drücken. Und dieses zu lernen, erschien ihm ein unvertretbar hoher Aufwand, gerade weil er doch ganz genau wusste, wie die Struktur der Schallwellen, die letztendlich sein Ohr erreichen sollten, auszusehen hatte. Also ging er daran dieses niederzuschreiben, was nicht gerade wenig Aufwand bedeutete, da es im schlimmsten Fall um Änderungen unterhalb des Millisekundenbereiches ging, was eine enorme Anzahl an Einzelschritten bedeuten musste zum Erreichen einer Dauer von knapp sechs Minuten. Doch was blieb ihm anderes übrig? Die sehr genaue Vorstellung in seinem Kopf war nun einmal vorhanden und musste nur noch in eine äußere Leblosigkeit überführt, d.h. niedergeschrieben werden. Und das Ziel war klar. Indem User 442993686 das tote Endresultat seines lebendigen Schaffensprozesses niederschrieb, würde die Möglichkeit bestehen, auf nun umgekehrte Art und Weise, nämlich durch das Empfangen der ebenfalls toten Schallwellenmuster, seine Lebendigkeit in der Art und Weise zu perturbieren, dass sich ein ähnliches Hin und Her, ein vergleichbares Stimmengewirr ergäbe, wie jenes, welches ursprünglich die sehr genaue Vorstellung hervorgebracht hatte, oder dieser zumindest recht nahe kommen sollte. Soweit zur Philosophie von User 442993868. Schwer zu sagen, wie es mit den Philosophien der anderen User aussah. Das interessierte unseren User kein bisschen. Warum? Die Antwort, oder zumindest ein Teil davon, sollte zu finden sein in seiner Vorstellung. Er hatte eine sehr genaue Vorstellung. User 442993686 wusste exakt, wie das Ergebnis aussehen sollte, oder vielmehr, wie es sich anhören sollte...

Analyse

Der kurze Text „User 442993686“ entfaltet in poetisch-präziser Sprache ein philosophisches Szenario von hoher metaphorischer Dichte. Im Zentrum steht eine anonyme Figur – ein User, wie aus einer Datenbank entnommen –, die trotz fehlender handwerklicher Kenntnisse eine äußerst präzise Vorstellung eines akustischen Ergebnisses besitzt. Aus dieser paradoxen Konstellation entspinnt sich ein vielschichtiges Nachdenken über Vorstellungskraft, technologische Vermittlung, Kreativität und Identität in einer post-digitalen Welt.

 

Die Vorstellung als Ursprung

Die Eröffnung des Textes lässt keinen Zweifel daran: „Er hatte eine sehr genaue Vorstellung.“ Diese Vorstellung ist kein vager Wunsch, sondern eine detaillierte mentale Architektur – ein inneres Klangbild. Interessanterweise verschiebt der Text dabei von Beginn an den Fokus: Nicht das Ergebnis zählt im üblichen Sinn, sondern dessen klangliche Realisation. Dies legt nahe, dass es sich nicht um ein visuelles Werk handelt, sondern um Musik oder Soundkunst. Diese Differenz ist zentral: Klang, im Gegensatz zu Text oder Bild, entfaltet sich in der Zeit und ist damit ephemer. Die präzise Vorstellung von etwas derart Flüchtigem verweist auf ein inneres Modell, das durch keine unmittelbare Technik erreicht werden kann – ein Punkt, den auch Theodor W. Adorno in seiner Ästhetischen Theorie (1970) thematisiert, wenn er über die Diskrepanz zwischen künstlerischer Idee und deren medialer Ausführung schreibt.

 

Technologischer Analphabetismus und digitale Mediation

User 442993686 steht exemplarisch für eine zeitgenössische Figur: den Konzeptkünstler ohne technisches Know-how. Seine Unfähigkeit, „die richtige Taste zur richtigen Zeit zu drücken“, verweist auf eine Entfremdung von den Mitteln der Produktion. Dennoch unternimmt er eine immense Anstrengung, die eigene Idee zu kodifizieren – und zwar bis in den „Sub-Millisekundenbereich“. Die Sprache der Zeitauflösung evoziert digitale Audio-Editing-Prozesse: Die Vorstellung soll nicht interpretiert, sondern exakt geschrieben werden.

Hier kippt der kreative Prozess in eine maschinelle Logik: Die Idee wird zur Datenstruktur, das Lebendige ins Tote überführt. Der User verwandelt sich in eine Art Meta-Komponist, dessen Produkt nicht Klang ist, sondern ein Plan des Klangs – ein Skript. Diese Perspektive erinnert an Vilém Flussers Begriff des „Apparats“ (Ins Universum der technischen Bilder, 1985): Der Mensch gibt die Kontrolle über die Produktion an technische Systeme ab, bleibt aber über die Programme, die er schreibt, ein Akteur der Sinngebung.

 

Umgekehrte Schöpfung: Vom Lebendigen zum Toten und zurück

Das vielleicht faszinierendste Moment in „User 442993686“ ist das Modell des reziproken künstlerischen Prozesses. Der User schreibt tote Daten nieder – mit der Hoffnung, dass diese später, in Form toter Schallwellen, einen lebendigen Eindruck beim Hörer erzeugen. Dies ist nichts anderes als eine Umkehrung des schöpferischen Prinzips: Nicht vom Lebendigen wird das Tote hervorgebracht, sondern das Tote wird zum Träger des Lebendigen. Der User strebt keine Reproduktion seines Gefühls an, sondern eine Perturbation – eine lebendige Störung, die einen vergleichbaren inneren Dialog im Rezipienten entfacht.

In dieser Vorstellung schwingt ein zutiefst medienphilosophisches Problem mit: Wie kann Bedeutung durch nichtbedeutungstragende Medien hindurch vermittelt werden? Ähnlich wie bei Marshall McLuhan (Understanding Media, 1964) wird hier das Medium nicht als neutrale Hülle verstanden, sondern als aktiver Agent, der die Bedingungen der Wahrnehmung prägt. Die Schallwellen sind tot – aber sie bringen etwas Lebendiges hervor.

 

Der radikale Individualismus des Users

Abschließend betont der Text: „Schwer zu sagen, wie es mit den Philosophien der anderen User aussah. Das interessierte unseren User kein bisschen.“ Dieser Satz ist entscheidend. In einer Zeit digitaler Vernetzung und algorithmischer Vergleichbarkeit steht User 442993686 für einen radikalen Subjektivismus. Seine Vorstellung ist autark, sie braucht keine Gemeinschaft, keinen Diskurs, keinen Kontext. Diese Position widerspricht nicht nur intersubjektiven Konzepten der Ästhetik, wie sie etwa bei Hans-Georg Gadamer (Wahrheit und Methode, 1960) entwickelt wurden, sondern verweist auf ein künstlerisches Ethos, das der reinen Innerlichkeit verpflichtet ist – eine Art postdigitale Mystik.

 

Fazit: Vorstellung als algorithmisches Dasein

„User 442993686“ ist ein dichter, experimenteller Text über den inneren Imperativ schöpferischer Vorstellungskraft im Zeitalter ihrer algorithmischen Umsetzung. Der User steht exemplarisch für den kreativen Menschen im digitalen Zeitalter: isoliert, präzise, technologieabhängig und zugleich auf geheimnisvolle Weise autonom. Seine „sehr genaue Vorstellung“ wird zur Chiffre für die Ambivalenz künstlerischen Schaffens im Spannungsfeld zwischen Imagination und Maschine.

 

Verweise / Referenzen:

  • Adorno, Theodor W. Ästhetische Theorie. Suhrkamp, 1970.

  • Flusser, Vilém. Ins Universum der technischen Bilder. Bollmann, 1985.

  • McLuhan, Marshall. Understanding Media: The Extensions of Man. MIT Press, 1964.

  • Gadamer, Hans-Georg. Wahrheit und Methode. Mohr Siebeck, 1960.

  • Proemial Philosophie Blog: „User 442993686“