Der Text ist mehr als eine stilistische Fingerübung. Es ist ein ironisches Traktat über den Anfang, über die Bedingungen des Denkens, des Schreibens und des Fragens. Es zeigt, wie Sinn entsteht – und wieder untergraben wird. Es entlarvt die Nützlichkeitslogik als geistige Monokultur. Und es verteidigt, bei aller Ironie, das Unfertige, das Kontingente, das Spielerische als genuin menschliche Daseinsform.
So, damit wären wir bei der ersten Zeile. Damit fängst es an. Und dann arbeitet man sich vorwärts. Wobei es nicht wirklich Arbeit ist. Es ist ganz einfach eine Art des Daseins. Vielleicht nicht die schlechteste. Auf jeden Fall ist es Dasein. Was sollte es auch sonst sein? Nun ist es wohl so, da bin ich mir recht sicher, dass jetzt bei einigen aus der Dunkelheit des Unbewussten der Gedanke der Nützlichkeit aufsteigt. Ist es denn nützlich? Was soll das sein? Was macht man damit? Diese Art von Fragen hat ganz bestimmte Voraussetzungen. Die Antwort ist bereits vorgegeben und soll nur der Bestätigung der bestimmten Voraussetzungen dienen. Diese Art der Fragestellung ist etwas langweilig, möglicherweise genauso langweilig wie derjenige, der die Frage stellt, es sei denn, da treibt jemand seinen Spaß und macht sich vielleicht sogar ein wenig lustig über die Art der Fragestellung und damit auch über die Leute, die gern diese Art von Fragen stellen. Doch stellen diese Leute wirklich gern diese Art von Fragen? Ist es nicht vielmehr ein Zwang? Ein gar nicht anders Können? Fragestellung, Persönlichkeit und Wahrheit gehen hier Hand in Hand, und jede Abwertung der Fragestellung kommt einer Abwertung der Person gleich. Es erstaunt daher auch nicht, dass eine derart plumpe Fragestellung, zumindest aus unserer Sicht, aus der Sicht des Fragestellers sieht das vermutlich ganz anders aus, dass also eine so, ja sagen wir es doch einfach, so eine dumme Frage, einhergeht mit einer unglaublich stark ausgeprägten Empfindlichkeit. Das verstehen wir nun, jedoch ohne Verständnis aufbringen zu müssen. Es sind und bleiben blöde Fragen. Soviel dazu. Viel zu viel. Deshalb zurück zum Eigentlichen, noch ohne zu wissen, was dieses Eigentliche sein soll. Ja, was ist es, das Eigentliche? Wieder eine dieser Fragen, die wir längst hinter uns gelassen glaubten. Egal. Eins ist sicher. Wir haben mittlerweile einen recht guten Abstand zwischen uns und die erste Zeile gebracht. Wer hätte das gedacht? Ich jedenfalls nicht. Da bin ich schon etwas erstaunt, wie schnell sowas doch geht. Und dabei ist noch gar nicht so viel gesagt worden. Ich denke, das Thema Nützlichkeit hat sich jedenfalls erledigt. Und auch die Eigentlichkeit. Beides spielt keine Rolle. Nur was passiert dann hier die ganze Zeit? Dass etwas passiert ist, ist nun wirklich unstrittig. Vielleicht sollte man darüber nachdenken, wie es angefangen hat? Die berühmten Ursachen? Oder auch Gründe? Wieso ist genau das passiert und nicht das andere? Welches andere? Keine Ahnung. War es vielleicht doch eine Art von Nützlichkeit, die uns bewogen hat, die erste Zeile zu schreiben? Vermutlich muss man den Begriff der Nützlichkeit etwas weiter fassen. Am Besten soweit, dass am Ende jede Handlung eine nützliche Handlung ist. Und das ist sogar plausibel, denn warum in aller Welt, sollte man eine Handlung denn sonst vollziehen? Es passiert einfach, und wenn es passiert ist, dann ist es passiert, mit allem was dazugehört. Recht, Wahrheit, Ursachen und Gründe. Und was die anderen dazu sagen? Vieles. Das ist hier völlig uninteressant, denn die Wahrheit ist, dass die erste Zeile geschrieben wurde. Das kann niemand ernsthaft bestreiten wollen. Und wer es doch tun möchte, der soll es eben tun. Denn der ersten Zeile ist es doch völlig egal, was über sie gesagt wurde und jemals gesagt werden wird. Sieh an! Jetzt sind wir schon so weit, dass ich die erste Zeile nicht einmal mehr sehen kann! Ich müsste schon die Bildlaufleiste bewegen, um absolut sicher zu sein, dass sie wirklich da ist. Denn, wie jeder weiß, ist die Frage, ob die Zeile immer noch da ist, obwohl man sie nicht sehen kann. In diesem Fall bin ich mir recht sicher, dass sie irgendwo in anderer Form noch vorhanden ist, nur um bei Bedarf auf dem Bildschirm als solche zu erscheinen. Doch solange sie das nicht tut, ist sie nicht sichtbar, aber vielleicht doch da. Ok, beim klassischen Buch ist das etwas anders. Auch wenn das Buch nicht aufgeschlagen ist, bleiben die Zeichen auf dem Papier. Was ja schon eine große Verschwendung ist. Man hat beispielsweise ein Buch von, sagen wir mal, zweitausend Seiten, und obwohl immer nur zwei Seiten sichtbar sind, sind alle anderen Seiten auch in einer Form vorhanden, die eigentlich nur notwendig wäre in dem Moment, wo es einen Wunsch zur Sichtbarmachung gibt. Irgendwie schon Wahnsinn! Schnee von gestern. Heute wissen wir, dass es auch besser geht. Bei welcher Zeile sind wir eigentlich? Denn ich glaube, ich brauche mal eine kleine Pause. Ich weiß nicht, wie es euch geht, doch hat mich der Gedanke an ein zweitausend Seiten dickes Buch extrem erschöpft. Ich glaube, ich schließe hier einfach das erste Kapitel ab, es trägt überraschenderweise den Titel 'Die erste Zeile', und mach später weiter. Nämlich dann, wenn aus den Tiefen des Unterbewusstseins eine neue Nützlichkeit emporsteigt, eine Nützlichkeit im weitesten Sinne, und genau dann wird es weitergehen. Es sei denn, dass das niemals passieren wird und dass es immer Nützlichkeiten von möglicherweise ganz anderer Art geben wird, die einfach stärker sind als die Nützlichkeit, die notwendig wäre, um ein zweites Kapitel zu beginnen. Lassen wir uns einfach überraschen. Damit schließe ich dieses erste Kapitel endgültig, ein erstes Kapitel, das so verheißungsvoll begann, nämlich mit einer ersten Zeile. Gute Nacht.
Analyse
Im Text „Erstes Kapitel“ von entfaltet sich ein scheinbar lockerer, innerer Monolog über das Schreiben – genauer: über das Beginnen mit der ersten Zeile. Doch hinter dieser Leichtigkeit verbirgt sich eine dichte Reflexion über grundlegende philosophische Themen wie Dasein, Nützlichkeit, Wahrheit, Sinn und Sprache. Der Text verläuft in Schleifen, Spiralen, parenthetischen Gedankensprüngen und erkenntnistheoretischen Seitengassen – und gerade darin zeigt sich seine Tiefenschärfe.
„Erstes Kapitel“ ist kein Kapitel im klassischen Sinn. Es ist ein Experiment, eine Selbstbeobachtung im Medium des Schreibens, und es ist vor allem: Metareflexion – über das Schreiben selbst, über die Frage, was überhaupt passiert, wenn man beginnt.
1. Die erste Zeile: Ursprung oder Illusion eines Anfangs?
Der Text beginnt mit der Feststellung:
„So, damit wären wir bei der ersten Zeile. Damit fängt es an.“
Dieser scheinbar banale Satz enthält bereits ein zentrales Motiv: Beginn und Bedeutung. Denn was bedeutet es, etwas zu beginnen? Ist das ein willentlicher Akt? Ein Impuls? Eine Notwendigkeit?
In der Philosophie steht der Anfang oft im Zentrum: Ob bei Aristoteles’ „archē“ (ἀρχή) als Prinzip des Seienden oder bei Descartes’ „cogito ergo sum“ als Ursprung des Denkens – immer steht der Anfang zugleich für Ursprung und Rechtfertigung. Doch Proemial dekonstruiert diesen Anfang: Die erste Zeile ist da, aber sie ist weder bedeutungsschwanger noch besonders spektakulär. Sie ist einfach. Und das ist ihr philosophischer Wert.
2. Dasein als Schreiben – Schreiben als Dasein
Früh heißt es:
„Es ist ganz einfach eine Art des Daseins. Vielleicht nicht die schlechteste.“
Dieser Satz evoziert Heideggers Begriff des Daseins als Existenzform, in der der Mensch in die Welt geworfen ist – mit der Aufgabe, Sinn zu entfalten, ohne dass dieser von außen gegeben wäre. Im Text jedoch wird diese Sinnproduktion nicht ontologisch heroisiert, sondern banalisiert, ja spielerisch aufgelöst: Das Schreiben wird zur Form des Daseins, aber ohne Pathos – ein Tun ohne Ziel, eine Handlung ohne teleologische Absicherung.
3. Nützlichkeit – ein verdächtiger Gedanke
Ein zentrales Thema des Textes ist die Frage nach der Nützlichkeit. Kaum taucht sie auf, wird sie auch schon dekonstruiert:
„Diese Art von Fragen hat ganz bestimmte Voraussetzungen. Die Antwort ist bereits vorgegeben und soll nur der Bestätigung der bestimmten Voraussetzungen dienen.“
Hier klingt Kritik an einer instrumentellen Vernunft an – ein Begriff, den Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung prägten. Wenn alles auf seinen „Zweck“, seinen „Nutzen“ reduziert wird, bleibt kein Raum mehr für das, was keinen unmittelbaren Nutzen hat: Kunst, Spiel, Kontemplation – oder eben: das Schreiben einer ersten Zeile.
Das Misstrauen gegenüber der Nützlichkeit verweist auch auf Nietzsche, der in der „Genealogie der Moral“ jene Moral kritisiert, die auf Zweckmäßigkeit und Kontrolle basiert – und stattdessen das „Zuviel“ des Lebens, das Spielerische und Überflüssige, feiert.
4. Sprache, Wahrheit und der Zwang zur Fragestellung
Der Text attackiert nicht nur die Frage nach der Nützlichkeit, sondern auch die Fragesteller selbst – zumindest in ihrer Haltung:
„Es sind und bleiben blöde Fragen.“
Doch diese Provokation bleibt nicht dabei stehen. Sie wird reflektiert, gebrochen, ironisiert: Vielleicht sind diese Fragen gar kein Ausdruck freier Entscheidung, sondern Zwang. Ein „gar nicht anders Können“. Damit rückt das Ich näher an psychoanalytische oder strukturale Sichtweisen auf das Subjekt heran – es ist nicht frei, sondern durch Sprache, Struktur, Erwartung determiniert.
Auch hier zeigt sich die Nähe zu Foucault, der das moderne Subjekt nicht als souverän, sondern als Produkt von Diskursen begreift – auch der Diskurs der Nützlichkeit ist ein solcher.
5. Die Unsichtbarkeit der Zeile: Ontologie der Abwesenheit
Einer der stärksten Abschnitte des Textes ist die Passage über das Nicht-mehr-Sehen-Können der ersten Zeile. Das Ich sinniert:
„Denn, wie jeder weiß, ist die Frage, ob die Zeile immer noch da ist, obwohl man sie nicht sehen kann.“
Das ist eine fast schon phänomenologische Fragestellung: Gibt es etwas, wenn es nicht mehr im Blick ist? Gibt es Wirklichkeit jenseits der Wahrnehmung? Husserl, Merleau-Ponty, aber auch Kant haben sich mit dieser Grundproblematik beschäftigt. Doch Proemial schlägt einen Umweg über das Digitale: Anders als im Buch ist auf dem Bildschirm nichts sichtbar, was nicht aktiv gerendert wird. Damit stellt sich eine ontologische Frage im Gewand der Medientheorie.
6. Das 2000-Seiten-Buch als Belastung der Vorstellungskraft
Die Vorstellung eines Buchs mit 2000 Seiten, bei dem nur zwei sichtbar sind, wird als absurd und erschöpfend empfunden. Hier zeigt sich ein tiefer medienkritischer Impuls: Die Materialität von Schrift wirkt plötzlich anachronistisch, schwer, überdimensioniert – in einer Zeit, in der Inhalte flüchtig, dynamisch und selektiv abrufbar sind.
Das erinnert an Vilém Flussers Überlegungen zur „Schrift“ als belastender kultureller Technik im Zeitalter der elektronischen Medien: Das Buch, einst Speicher von Welt, wird zur Last der Welt selbst.
7. Finale: Ironie, Hoffnung und Kontingenz
Der Text endet mit der bemerkenswerten Aussage:
„Ein erstes Kapitel, das so verheißungsvoll begann, nämlich mit einer ersten Zeile.“
Diese Aussage ist gleichzeitig ironisch, resignativ und hoffnungsvoll. Der Text verweigert eine klare Pointe, aber er bietet einen Vorschlag: Weiterzuschreiben – nicht aus Zwang, nicht aus Nützlichkeit, sondern vielleicht, weil das Leben genau daraus besteht: aus dem Schreiben der nächsten Zeile.
Fazit: Eine kleine Philosophie des Anfangs
„Erstes Kapitel“ ist mehr als eine stilistische Fingerübung. Es ist ein ironisches Traktat über den Anfang, über die Bedingungen des Denkens, des Schreibens und des Fragens. Es zeigt, wie Sinn entsteht – und wieder untergraben wird. Es entlarvt die Nützlichkeitslogik als geistige Monokultur. Und es verteidigt, bei aller Ironie, das Unfertige, das Kontingente, das Spielerische als genuin menschliche Daseinsform.
Vielleicht ist das die eigentliche Botschaft dieses ersten Kapitels: Nicht alles braucht ein Ziel – manchmal genügt die erste Zeile.