Rechte und linke Nicht-Existenz

Mehr als ein Wortspiel – eine philosophische Miniatur über Orientierung, Identität, Komplementarität und die Fragilität von Bedeutung. Der Dialog führt uns vor Augen, dass das, was wir für selbstverständlich halten – wie die Unterscheidung zwischen links und rechts – bei näherer Betrachtung keineswegs stabil ist.

Haben Sie vielleicht mein links gesehen?

 

Nein. Wie sieht es denn aus, Ihr links?

 

Das kommt immer darauf an, von welcher Seite man es betrachtet.

 

Ja, ja. So ist das meistens. Ich habe nur noch mein links, da kürzlich mein rechts verschwunden ist.

 

Tatsächlich? Oh, das ist aber schon gefährlich. Wer weiß, was passiert, wenn die beiden aufeinander treffen? Vielleicht vernichten die sich in einer riesigen Explosion?

 

Nicht auszudenken. Vielleicht reißen die auch ein schwarzes Loch in das Raum-Zeit-Kontinuum und verschwinden darin?

 

Alles vorstellbar. Von solchen schwarzen Löchern habe ich schon gehört. Da muss man aufpassen. Mit denen ist nicht zu spaßen.

 

Gut, dann hoffen wir mal, dass nichts von alledem passiert. Sie haben nicht zufällig ein Foto dabei?

 

Von meinem links? Leider nicht. Es war immer etwas kamerascheu. Und ihr rechts, haben Sie ein Foto?

 

Eine Sekunde... Hier ist es.

 

Prächtig sieht es aus.

 

Nicht wahr? Ich war auch immer ganz stolz darauf. Aber jetzt... Irgendwann musste es seinen eigenen Weg gehen.

 

Wie wahr. Dann kann man nichts machen. Ich werde mich auf jeden Fall bei Ihnen melden, wenn mit ihr rechts über den Weg läuft.

 

Vielen Dank.

 

Keine Ursache.

Analyse

Der kurze Dialog „Rechte und linke Nicht-Existenz“ ist ein ebenso amüsantes wie vielschichtiges Spiel mit Sprache, Relativität und metaphysischer Orientierungslosigkeit. Was zunächst wie eine absurde Konversation über verlorene Körperteile wirkt, entfaltet sich als tiefgründige Reflexion über die Unbestimmtheit von Begriffen wie „rechts“ und „links“, über Identität, Raum und das Paradoxe des scheinbar Selbstverständlichen.

 

1. Von der Richtung zur Relativität: „Das kommt immer darauf an, von welcher Seite man es betrachtet.“

Diese Aussage markiert den epistemologischen Kern des Dialogs: „Links“ und „rechts“ erscheinen auf den ersten Blick als stabile Koordinaten des Raumes, sind jedoch rein relationale Begriffe. Was für mich links ist, ist für mein Gegenüber rechts. Bereits die antiken Skeptiker machten sich über solche Instabilitäten der Wahrnehmung Gedanken, und in der modernen Physik sowie in der Phänomenologie (z. B. bei Maurice Merleau-Ponty) wird die Abhängigkeit von Perspektive zur methodischen Grundlage.

So wird aus der simplen Frage nach dem Verlorengegangenen eine Philosophie der Relativität im Alltag – ganz in der Tradition von Ludwig Wittgenstein, der in seinen Philosophischen Untersuchungen zeigt, dass Bedeutung nicht unabhängig vom Gebrauch verstanden werden kann.

 

2. Die Auflösung der Einheit: „Ich habe nur noch mein links, da kürzlich mein rechts verschwunden ist.“

Hier nimmt der Dialog eine skurrile Wendung: Eine Seite – das „rechts“ – ist verschwunden. Dies ist nicht nur eine komische Umkehrung des Alltags, sondern eine subtile Allegorie auf Fragmentierung, Einseitigkeit und vielleicht sogar auf politisch-philosophische Polarisierung. Was bleibt vom „links“, wenn kein „rechts“ mehr existiert? Kann es „links“ überhaupt ohne „rechts“ geben?

Der Text spielt hier mit ontologischer Komplementarität: Begriffe wie „oben/unten“, „gut/böse“, „rechts/links“ existieren nicht in Isolation, sondern nur durch ihr Verhältnis zum Anderen. Ohne rechts verliert links seinen Sinn – es bleibt ein leerer Platzhalter. Das erinnert an Strukturalismus (etwa bei Ferdinand de Saussure), wo Zeichen nur durch Differenz definiert sind, nicht durch innere Essenz.

 

3. Kosmischer Humor: „Vielleicht vernichten die sich in einer riesigen Explosion?“

Die scheinbare Harmlosigkeit der Frage führt zu einer überraschenden Eskalation: Die Möglichkeit einer Annihilation, eines Zusammenstoßes von „links“ und „rechts“, der das Raum-Zeit-Kontinuum zerstört. Der Dialog evoziert damit eine komische Überhöhung alltäglicher Begriffe ins kosmologische Extrem – ähnlich wie es Douglas Adams im „Hitchhiker’s Guide to the Galaxy“ praktizierte.

In Wahrheit handelt es sich hier um eine Persiflage auf die Angst vor Widersprüchlichkeit. Das Zusammentreffen von Gegensätzen wird häufig als gefährlich oder zerstörerisch empfunden – in Wahrheit aber ist es Voraussetzung für Verständigung, Dialektik und Wandel. Der Dialog überzeichnet diese Angst ins Lächerliche – und entlarvt damit ihre Absurdität.

 

4. Fotografien des Nicht-Fotografierbaren

„Von meinem links? Leider nicht. Es war immer etwas kamerascheu.“

Hier wird die Nicht-Greifbarkeit des Phänomens weiter pointiert: „Links“ ist nicht nur verloren, es war auch nie richtig sichtbar – „kamerascheu“. Dies ironisiert die Idee, dass Orientierung durch Repräsentation festgehalten werden könne. Ein Foto könnte etwas scheinbar sichern – aber wie fotografiert man ein „links“?

Diese Szene erinnert entfernt an Platos Ideenlehre, in der das Sinnliche (Fotografie, Erscheinung) nicht in der Lage ist, das Wahre (die Idee von „links“) vollständig zu erfassen. Gleichzeitig klingt hier die Medienkritik moderner Denker wie Jean Baudrillard an: Die Simulation ersetzt das Original, das Zeichen ersetzt die Realität – bis die Realität selbst verschwindet. „Links“ war nie ganz da – nur imaginiert.

 

5. Höflichkeit im Absurden: Kommunikation trotz Sinnverlust

„Vielen Dank.“
„Keine Ursache.“

Der Dialog endet mit einer absurden Höflichkeitsfloskel, die sich über die Irrealität der Situation hinwegsetzt. Diese sprachliche Ordnung trotz konzeptueller Desorientierung ist typisch für das gesamte Werk von Proemial. Sie lässt sich auch als Anspielung auf die Routinehaftigkeit menschlicher Kommunikation deuten: Wir reagieren „angemessen“, auch wenn die Situation jegliche Angemessenheit verloren hat.

So zeigt sich hier ein feiner Existenzialismus à la Beckett oder Ionesco: Menschen handeln, sprechen, suchen – auch wenn die Gegenstände ihrer Suche vielleicht gar nicht (mehr) existieren.

 

Fazit: Die Koordinaten unserer Welt sind fragil

„Rechte und linke Nicht-Existenz“ ist mehr als ein Wortspiel – es ist eine philosophische Miniatur über Orientierung, Identität, Komplementarität und die Fragilität von Bedeutung. Der Dialog führt uns vor Augen, dass das, was wir für selbstverständlich halten – wie die Unterscheidung zwischen links und rechts – bei näherer Betrachtung keineswegs stabil ist.

Was passiert, wenn eine Seite verschwindet? Vielleicht nichts – vielleicht alles. Vielleicht bleibt nur ein ironisches Lächeln.

 

Weiterführende Denker & Werke:

  • Maurice Merleau-PontyPhänomenologie der Wahrnehmung (Körper-Raum-Relation)

  • Ferdinand de SaussureCours de linguistique générale (Zeichen durch Differenz)

  • PlatonPoliteia, Ideenlehre

  • Jean BaudrillardSimulacra and Simulation

  • Samuel BeckettWarten auf Godot

  • Douglas AdamsThe Hitchhiker’s Guide to the Galaxy