Herbst

Ein kurzer, aber hoch verdichteter Text, der sich jedem finalen Zugriff entzieht. Er thematisiert auf poetische Weise den Zustand des Dazwischen-Seins, die Unmöglichkeit echter Nähe, die Unschärfe von Realität – alles typisch für das moderne, digitalisierte, entgrenzte Subjekt.

Ergebung. Wer hat danach gefragt? Ein leises Lachen. Dahingleiten auf den Wellen von Kommunikation und Kontaktivität. Endlose Odyssee. Das klassische Vielleichtreal und gefahrlose Späßchen. Die Pflicht ist getan. Nachträgliche Begutachtung des Drausgemachtbesten. Unterhaltung durch das Objektiv. Fastreal. Flucht zum Altbekannten und zwischendrin einige der Nächstbesten. Herbst. Vorbei an den im Wind baumelnden Seelen der Fastsoweitgewesenen. Grüß Euch!

Analyse

Der Text „Herbst“ ist ein dichtes, poetisches Fragment, das in wenigen Zeilen existenzielle Stimmungen und Übergänge einfängt. Der Titel allein ist bereits mehrdeutig: Er verweist auf die Jahreszeit des Rückzugs und Verfalls, aber auch auf die reife Phase im Lebenszyklus, auf den Zustand zwischen Abschluss und Übergang. Der Text arbeitet mit neologistischen Konstruktionen und abstrakter Bildsprache, die sowohl eine sprachphilosophische als auch eine existentialistische Deutung nahelegen.

 

I. Ergebung – freiwillig oder aufgezwungen?

„Ergebung. Wer hat danach gefragt?“

Der Einstieg provoziert. „Ergebung“ klingt nach Kapitulation, nach Loslassen – fast nach resignatio ad inferos. Doch die unmittelbare Gegenfrage unterläuft jedes Pathos: Wer hat danach gefragt? Dies ruft Erinnerungen an Albert Camus' Idee der absurden Revolte (Der Mythos des Sisyphos): Der Mensch ergibt sich nicht aus Überzeugung, sondern weil die Bedingungen des Lebens es ihm aufzwingen – oder er aus Überdruss den Kampf niederlegt. Die Frage legt nahe: Ist Ergebung eine Wahl, ein Reflex oder eine Illusion?

 

II. Kommunikation als zielloses Gleiten

„Dahingleiten auf den Wellen von Kommunikation und Kontaktivität.“

Diese Zeile evoziert ein Bild moderner Subjektivität, wie sie etwa bei Byung-Chul Han beschrieben wird (Die Austreibung des Anderen, 2016): Kommunikation wird zum Selbstzweck, zur Wellenbewegung ohne Richtung. Die „Kontaktivität“ – ein Neologismus – erinnert an eine Welt permanenter Erreichbarkeit, in der Tiefe durch Austausch ersetzt wird. Das Dahingleiten ist nicht positiv besetzt; es suggeriert Passivität, ein Ausgeliefertsein an Ströme, die man nicht mehr hinterfragt.

 

III. Zwischen Fastreal und Vielleichtreal – Das Spiel mit Wahrnehmung

„Das klassische Vielleichtreal und gefahrlose Späßchen.“

Die Begriffe Vielleichtreal und Fastreal werfen eine ontologische Frage auf: Was gilt noch als wirklich, wenn wir im Übergang von analog zu digital, von direkt zu vermittelt, von konkret zu symbolisch leben? Das Vielleichtreal erinnert an Jean Baudrillards Konzept der Hyperrealität – eine Welt, in der Simulationen die Realität nicht mehr nur abbilden, sondern ersetzen. „Gefahrlose Späßchen“ suggerieren ein Umfeld, in dem Risikolosigkeit durch Belanglosigkeit erkauft wird. Es ist die Tragik einer Welt, in der das Ereignis durch Unterhaltung ersetzt wird.

 

IV. Rückblick und Flucht

„Die Pflicht ist getan. Nachträgliche Begutachtung des Drausgemachtbesten.“

Die Phrase „Drausgemachtbesten“ ist ein ironisch-distanziertes Resümee. Es klingt nach Abrechnung, nach retrospektivem Schönreden. Der Blick auf das eigene Handeln ist dabei nicht introspektiv, sondern beinahe objektiviert – ein Effekt, der durch den nächsten Satz verstärkt wird:

„Unterhaltung durch das Objektiv.“

Das „Objektiv“ ist doppeldeutig: Es kann sowohl für eine Kamera stehen als auch für eine Betrachtung ohne persönliche Einmischung. In beiden Fällen wird Distanz betont – eine emotionale Entfremdung vom Erlebten, ein Leben im Nachhinein, als Rückspiegelrealität.

 

V. Herbst – Die Jahreszeit des Übergangs

„Herbst. Vorbei an den im Wind baumelnden Seelen der Fastsoweitgewesenen.“

Die zentrale Metapher des Herbstes kulminiert in einem düsteren, beinahe kafkaesken Bild: „Seelen der Fastsoweitgewesenen“. Der Ausdruck evoziert eine Zwischenexistenz – Wesen, die fast dort waren, wo sie hinwollten, aber nicht ganz. Sie hängen im Wind, baumelnd, ohne Ziel oder Halt. Diese Szene ist gleichzeitig surreal und beklemmend – ein Symbol für verpasste Möglichkeiten, unzureichende Transformation, ein Leben im Schwebezustand.

Der abschließende Gruß „Grüß Euch!“ wirkt wie ein ironisches Augenzwinkern. Trotz aller Tiefe, Tragik und Reflexion bleibt der Text in sich leicht, elliptisch, spielend mit Sprache und Bedeutung – ganz in der Tradition des literarischen Existentialismus.

 

Fazit: Zwischen Zustand und Zynismus – Eine Poesie des Übergangs

„Herbst“ ist ein kurzer, aber hoch verdichteter Text, der sich jedem finalen Zugriff entzieht. Er thematisiert auf poetische Weise den Zustand des Dazwischen-Seins, die Unmöglichkeit echter Nähe, die Unschärfe von Realität – alles typisch für das moderne, digitalisierte, entgrenzte Subjekt.

In seinen Neologismen (Fastreal, Kontaktivität, Drausgemachtbesten) lässt sich ein spielerischer Umgang mit Sprache erkennen, der an Autoren wie Ernst Jandl oder Friederike Mayröcker erinnert – und dennoch bleibt der Text tief verwurzelt in der existenziellen Philosophie eines Camus, Heidegger oder Sartre.

Der Herbst ist hier kein Ende, sondern eine Art Zwischenzustand, ein Moment des Blicks zurück, bevor der nächste Schritt – oder auch nur das nächste Dahingleiten – erfolgt.

 

Philosophische Verweise:

  • Albert Camus, Der Mythos des Sisyphos: Ergebung und Absurdität

  • Byung-Chul Han, Die Austreibung des Anderen (2016): Oberflächliche Kontaktkultur

  • Jean Baudrillard, Simulacres et Simulation (1981): Fastrealität und Hyperrealität

  • Martin Heidegger, Sein und Zeit: Die Seinsverlassenheit im Alltäglichen

  • Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts: Flucht ins Objektivieren