Kein nihilistischer Text. Im Gegenteil: Er ist ein Plädoyer für das Denken des Nicht-Identischen, ein Versuch, jene Spielräume zu erkunden, in denen Bedeutung nicht fixiert, sondern freigesetzt wird. Das Schreiben über Nichts wird so zum poetischen Akt – nicht weil es nichts sagt, sondern weil es anders sagt. Es ist eine performative Philosophie, die sich der Eindeutigkeit entzieht, nicht aus Beliebigkeit, sondern aus Bewusstsein.
Schreib doch mal, wenn du wieder da bist. Und wenn du schon wieder da bist, dann könntest du einfach mal was schreiben. Für den Anfang wäre es ganz gut, über nichts zu schreiben. Und über nichts zu schreiben, ist in den meisten Fällen auch ein recht guter Anfang. Und denk nicht so viel über die Bedeutung nach, das ist für später. Und später kannst du dich immer noch eingehend mit möglichen Bedeutungen auseinandersetzen. Vielleicht setzen wir uns vorher mal zusammen, um die Einzelheiten zu besprechen. Wobei ich mir nicht sicher bin, ob wir uns zur Diskussion der Einzelheiten einfach zusammensetzen sollten. Möglicherweise kommst du auf die Idee, ein paar Beispiele könnten hilfreich sein, denn du bist dir womöglich nicht ganz sicher, wie man das macht, über nichts zu schreiben. Falls irgendwelche Unsicherheiten bestehen hinsichtlich des Schreibens über nichts, könnte das zu der Annahme führen, dass Beispiele durchaus hilfreich seien. Hier muss ich dir leider sagen, dass das Schreiben über nichts und die Beispielidee sich krass widersprechen. Auch ist es völlig ausgeschlossen, anhand von Beispielen anschaulich zu machen, wie man über nichts schreibt. Zudem solltest du wissen, dass kein Nichts mit dem anderen vergleichbar ist. Und das muss auch so sein. Stell dir vor, was es für die Bedeutung bedeuten würde, wenn es nur das eine Nichts gäbe. Und ich muss dich noch darauf hinweisen, dass es unglaublich bedeutsam ist, dass kein Nichts mit dem anderen identisch ist. Das ermöglicht erst die Freiheit der Bedeutungen. Noch schlimmer. Das Nichts ist nicht einmal mit sich selbst identisch. Ich glaube das ist der entscheidende Punkt. Schwer vorstellbar? Dann habe ich es wohl treffend beschrieben. Das entscheidende Kriterium, um herauszufinden, ob du tatsächlich über nichts geschrieben hast, ist eigentlich ganz einfach. Ist das, was du geschrieben hast nicht mit sich selbst identisch, dann hast du tatsächlich über nichts geschrieben. Und noch etwas. Falls dir jemand einreden will, das Schreiben über nichts wäre dasselbe wie einfach nicht zu schreiben, vergiss es.
Analyse
Der Text „Ohne Identität“ ist eine Reflexion, ein Spiel, eine Paradoxie – zugleich eine poetisch-philosophische Meditation über das „Nichts“, über Identität und Bedeutung. Was vordergründig als ironisch-distanziertes Geplänkel über das Schreiben beginnt, entfaltet sich zu einer tiefgehenden Auseinandersetzung mit einem zentralen philosophischen Problem: Wie kann man über das Nichts sprechen – und dabei dem entgehen, ihm ungewollt Bedeutung oder Identität zuzuschreiben?
Der Text nimmt bewusst Widersprüche in Kauf, baut sie sogar ein, um genau auf diesen Grenzbereich hinzuweisen – und ruft dabei Echofiguren aus der Philosophiegeschichte auf: von Parmenides bis Derrida, von Heidegger bis Lacan, von Wittgenstein bis Bataille.
I. Das Nichts als Nicht-Identität – oder: Kein Nichts ist wie das andere
Zentraler Gedanke des Textes ist, dass das Nichts nicht nur kein Etwas ist – sondern auch nicht „das eine Nichts“. Es hat keine Identität, nicht einmal mit sich selbst:
„Noch schlimmer. Das Nichts ist nicht einmal mit sich selbst identisch.“
Diese Formulierung ist mehr als nur ein paradoxes Bonmot – sie verweist direkt auf die Kritik klassischer Identitätslogik. Nach der aristotelischen Tradition gilt der Satz der Identität: A = A. Doch das Nichts widersetzt sich diesem Prinzip. In Heideggers berühmtem Satz „Das Nichts nichtet“ klingt eine ähnliche Denkbewegung an: Das Nichts ist kein Objekt, keine Entität, sondern eine Differenz, ein Riss im Sein selbst. Heidegger versuchte – gegen die metaphysische Tradition – das Nichts nicht als Mangel, sondern als Voraussetzung von Sinn und Offenheit zu denken.
Im Blogtext wird diese Idee radikalisiert: Nicht nur ist das Nichts nicht etwas, es ist nicht einmal sich selbst gleich. Damit verweist der Text auch auf Jacques Derridas Konzept der différance – der Verschiebung und Differenz, durch die Bedeutungen niemals stabil sind. Kein Nichts gleicht dem anderen – das bedeutet, dass jede Bedeutung offen bleibt, dass jedes Wort über das Nichts seine eigene Unsicherheit mitschleppt.
II. Schreiben über Nichts ≠ Nicht-Schreiben
Der Text konfrontiert uns mit einem weiteren Missverständnis:
„Falls dir jemand einreden will, das Schreiben über nichts wäre dasselbe wie einfach nicht zu schreiben, vergiss es.“
Hier wird das zentrale Missverständnis vieler Nichts-Debatten ironisch aufgelöst: Etwas über das Nichts zu schreiben ist nicht gleichbedeutend mit Schweigen – im Gegenteil. Diese Passage verweist direkt auf Wittgensteins berühmten Schlusssatz aus dem Tractatus Logico-Philosophicus: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“ – Der Proemial-Text widerspricht diesem Ansatz performativ: Er spricht genau dort, wo „nicht gesprochen werden darf“. Aber nicht im Sinne klarer Aussagen, sondern als reflektierte Form der Aporie, als ein absichtsvoll paradoxes Schreiben.
Auch Georges Bataille könnte hier als stiller Pate fungieren. In seiner Schrift „Die innere Erfahrung“ schreibt er über das Unmögliche, das sich nur über seine Unmöglichkeit erfahrbar macht – ein Denken jenseits des rational Fassbaren. Der Proemial-Text tut genau das: Er spricht über das Nichts, indem er seine Unsagbarkeit aufzeigt – aber trotzdem nicht schweigt.
III. Anti-Didaktik: Warum Beispiele hier nicht helfen
„Hier muss ich dir leider sagen, dass das Schreiben über nichts und die Beispielidee sich krass widersprechen.“
Dieser Satz ironisiert den didaktischen Impuls, mit Beispielen komplexe Gedanken zu veranschaulichen. Doch Beispiele beruhen auf Wiederholung, auf Übertragbarkeit – und genau das ist beim Nichts unmöglich, weil es nicht verallgemeinert werden kann. Es entzieht sich der Logik des Vergleichs.
Dies verweist auf einen grundsätzlichen Unterschied zwischen rationaler Erklärung und poetischer Evokation – ein Motiv, das etwa Maurice Blanchot oder Emmanuel Levinas beschäftigt hat. Die Idee, dass es Dinge gibt – etwa das Nichts –, die sich nur indirekt, negativ oder poetisch erschließen lassen, liegt dieser Passage zugrunde. Das Nichts ist eben nicht „didaktisierbar“. Jeder Versuch, es durch Beispiel zu veranschaulichen, erzeugt bereits etwas – und zerstört damit das, worüber man schreiben wollte.
IV. Bedeutung verschieben – oder: Die Freiheit des Nicht-Identischen
„Das ermöglicht erst die Freiheit der Bedeutungen.“
Diese Bemerkung ist der Schlüssel zum Text. Indem das Nichts keine Identität hat, öffnet es den Raum für Bedeutung – paradoxerweise nicht durch Festlegung, sondern durch Offenheit. Der Text rückt damit in die Nähe von poststrukturalistischen Theorien, nach denen Bedeutung niemals fix ist, sondern stets im Fluss, im Spiel der Differenz.
Gerade das „Nicht-Identische“ – ein Begriff, der auch bei Adorno zentral ist – erlaubt einen Zugang zur Welt, der nicht über Festschreibungen funktioniert, sondern über Offenheit, Ambivalenz, Spiel. Der Essaytext performt diese Offenheit selbst, indem er widersprüchlich bleibt, sich jeder Eindeutigkeit verweigert – und so ein philosophisches Denken evoziert, das nicht auf Lösung, sondern auf Horizont zielt.
Fazit: Über Nichts schreiben – ein poetisch-philosophischer Akt
„Ohne Identität“ ist kein nihilistischer Text. Im Gegenteil: Er ist ein Plädoyer für das Denken des Nicht-Identischen, ein Versuch, jene Spielräume zu erkunden, in denen Bedeutung nicht fixiert, sondern freigesetzt wird. Das Schreiben über Nichts wird so zum poetischen Akt – nicht weil es nichts sagt, sondern weil es anders sagt. Es ist eine performative Philosophie, die sich der Eindeutigkeit entzieht, nicht aus Beliebigkeit, sondern aus Bewusstsein.
Wer hier schreibt, der schreibt über nichts – und meint damit: über das Offene, das Nicht-Benennbare, das Nicht-Vergleichbare. Und genau darin liegt eine tiefe, subversive Freiheit des Denkens.