Kein triviales Thema, sondern die große Frage: Wie leben wir sinnvoll in der Zeit? Er spielt mit den Erwartungen an Fortschritt und Bewegung und dekonstruiert sie in einem minimalistischen Stil. Dabei schafft er es, auf humorvolle Weise den Glauben an das Immer-Neue infrage zu stellen und gleichzeitig eine stille Lanze zu brechen für das Bleiben, für das Nicht-Wechseln, für das Aushalten.
Sehr geehrte Zuhörer!
Folgendes Szenario. Es sei wieder Montag. Als erster Tag der Woche selbstverständlich bedeutungsvoll und in die Zukunft weisend. Wieder Zeit, auf eine Reise zu gehen. Was sollte man auch sonst an einem Montag tun? Warum ist nicht jeder Tag ein Montag? Wenn jeden Tag Montag wäre, dann würde man an jedem Morgen auf eine Reise gehen. Und wenn man sich nach dem Aufwachen nicht sicher ist, was genau für ein Tag gerade ist? Vielleicht wieder ein Montag? Das wäre gut. Dann müsste man nicht so lange an diesem Ort bleiben, sondern könnte sofort weiterreisen, in der Hoffnung, dass auch nach der nächsten Nacht wieder Montag sein würde. Unvorstellbar, dass es auch anders sein könnte. Was würde man tun, wenn man aufwacht und feststellt, dass kein Montag ist? Denn es soll ja angeblich noch andere Tage geben. Wie die heißen, weiß kaum noch einer. Und wer es doch weiß? Mmh... Woher soll man wissen, dass derjenige, der behauptet, es wäre ein anderer Tag, und vielleicht sogar den Namen des anderen Tages weiß, woher soll man wissen, ob das stimmt, was der sagt? Man könnte ihn fragen, woher er das weiß. Doch würde das vermutlich eine längere Diskussion geben, bei der am Ende doch nicht zweifelsfrei belegt werden könnte, dass es noch andere Tage gibt. Wie sollte das auch gehen? Genauso gut würde es mir schwerfallen, zweifelsfrei zu beweisen, dass schon wieder Montag ist und ich deshalb schon wieder auf eine Reise gehen muss. Da am Ende keiner wirklich endgültige Beweise vorlegen kann, bleibt es wohl jedem selbst überlassen festzulegen, was für ein Tag gerade ist. Ich werde mich wohl weiterhin für die Montage entscheiden. Oder auch nicht entscheiden. Ich tue einfach so, als hätte man diese Entscheidung für mich gefällt. Eine höhere Macht hat entschieden, und ich folge den Entscheidungen dieser höheren Macht. Denn was ich will, ist, morgens an einem Montag aufzuwachen und nicht, aufwachen und erst einmal darüber nachdenken müssen, welcher Tag mir denn nun genehm wäre. Denn dabei käme doch immer wieder nur Montag heraus, weshalb mir die Idee mit der höheren Macht, die die Spielregeln festlegt, irgendwie angenehmer ist. Wie das die anderen machen, weiß ich nicht genau, und will es, ehrlich gesagt, auch gar nicht so genau wissen. Wenn mich jemand fragt, warum ich denn ständig unterwegs sei, dann erkläre ich das demjenigen durchaus bereitwillig, solange keine längere Diskussion daraus wird. Denn als jemand, der ständig unterwegs ist, fehlt mir doch etwas die Zeit, mit ortsfesten Lebewesen längere Unterhaltungen zu führen, die sie am Ende doch nur verwirren, weil das Ganze aus Sicht der Ortsfestigkeit vielleicht etwas merkwürdig erscheinen muss. Dafür habe ich Verständnis und freue mich daher jedes Mal, wenn ich jemanden treffe, der am Morgen mit mir zusammen eine Reise antritt. Und auf diesen Reisen hat man auch mal Zeit, ein wenig nachzudenken. Ich denke, dass auch die Ortsfesten viel Zeit zum Nachdenken haben. Nur denken die wahrscheinlich über ganz andere Dinge nach als ich, der ich ein dauerhaft Mobiler bin. Interessanterweise denke ich sehr oft über die Ortsfestigkeit nach. Die Frage ist nun, ob die Ortsfesten sehr viel über Mobilität nachdenken. Eigentlich könnte ich die ja mal danach fragen, nur habe ich nie Zeit, da ich ständig unterwegs bin, auch wenn es mir manchmal so vorkommt, als ob ich stillstehe und dass die Ortsfesten sich permanent an mir vorbeibewegen würden. Eine Sache ist mir jedenfalls aufgefallen. Und andere mobile Einheiten konnten mir das auch bestätigen. Nie hat jemand jemals einen Ortsfesten sagen hören, dass er keine Zeit hätte. Ist das nicht erstaunlich? Nach jahrelangen, mehr oder minder oberflächlichen Diskussionen mit anderen mobilen Einheiten, das ist auch so eine Sache, die mir aufgefallen ist, dass mit Zunahme der Mobilität, die Diskussionen zusehends verflachen und die Zeitnot entsprechend zunimmt, daher wäre zu vermuten, dass mit den Ortsfesten unheimlich tiefgehende Diskussionen möglich sein müssten, worüber auch immer, wahrscheinlich wäre das einzige Thema dieses ständige Vorbeiziehen der mobilen Einheiten, aber wer weiß das schon genau, das ist alles nur hypothetisch, wie man so schön sagt, eben einer von diesen Gedanken, die plötzlich so auftauchen, wenn man ständig unterwegs ist, aber eigentlich ging es ja darum, warum die Ortsfesten nie behaupten, dass sie keine Zeit haben. Und endlich habe ich auch des Rätsels Lösung gefunden. Die Aussage, dass man keine Zeit hat, bedeutet doch nur, dass es mindestens einen Ort gibt, an dem man mit höherer Priorität sein müsste, als an dem Ort, an welchem man sich gerade befindet. Das ist schon alles. Keine Ahnung, was das mit Zeit zu tun haben soll. Vielleicht fällt mir dazu noch etwas ein. Aber nun ist auch klar, warum von einem Ortsfesten diese Aussage niemals zu hören sein wird. Und mir ist die ganze Sache eigentlich auch völlig egal, da für mich Orte überhaupt keine Rolle spielen. Nur insofern, dass ich am Morgen, nämlich dem montäglichen Morgen, den momentanen Ort immer verlasse, um die bekannte Montagsreise anzutreten. Was aber nicht heißt, dass es eine Priorität der Orte hinsichtlich meiner Anwesenheit gäbe. Das wäre auch zu verrückt. Und wenn dieser Fall, entgegen aller Erwartung, tatsächlich irgendwann eintreten sollte, dann kann ich jetzt schon sagen, dass ich meine Existenz als mobile Einheit beenden und zum Ortsfestentum konvertieren werde. Mir ist nur nicht klar, ob dann auch jeder Tag ein Montag sein wird, oder wie das dann abläuft. Jedenfalls wird es keine Reisetage mehr geben. Insofern ist es vermutlich völlig egal, ob man dem Tag überhaupt einen Namen gibt. Man macht ja eh jeden Tag das Gleiche, nämlich die Mobilen beobachten. Ich freu mich drauf! Gute Nacht!
Analyse
In dem ironisch-reflektiven Text „Mobilität vs. Ortsfestentum“ begegnen wir einer doppelbödigen Betrachtung zweier existenzieller Lebenshaltungen: dem des ewig Reisenden (Mobiler) und dem des fest Verwurzelten (Ortsfester). Was auf den ersten Blick wie eine satirische Parabel über Reise- und Alltagserfahrungen erscheint, entpuppt sich als philosophische Reflexion über Zeit, Selbstbestimmung, gesellschaftlichen Druck und die semantische Konstruktion von Bedeutung.
1. Der Montag als Chiffre
Der Text beginnt mit der willkürlichen Setzung: Es ist Montag. Aber nicht irgendein Montag – es ist ein idealer Montag, ein Tag des Neubeginns, der Bewegung, der Entfaltung. Der Montag wird dabei zur Metapher für permanente Mobilität. Die Frage, warum nicht jeder Tag Montag sein kann, ist nicht bloß rhetorisch, sondern verweist auf eine Wunschvorstellung: die Welt in ständiger Transformation, in der das Verharren am Ort oder in einer Haltung fast schon absurd erscheint.
Diese Entscheidung für den Montag erfolgt jedoch nicht frei, sondern wird an eine höhere, externalisierte Instanz delegiert – eine „höhere Macht“. Dies ist kein Zufall, sondern eine Form der Selbstentlastung durch Projektion. Hier erkennt man eine Parallele zur kritischen Theorie und insbesondere Adornos Kritik an der Pseudo-Autonomie des modernen Subjekts, das vorgibt, selbstbestimmt zu handeln, sich aber doch von Systemimperativen treiben lässt.
2. Mobiler vs. Ortsfester – Zwei existenzielle Modi
Der Text konstruiert zwei Archetypen:
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Der Mobile: ständig unterwegs, stets auf der Flucht vor der Stagnation, ein Denker in Bewegung, getrieben von einer inneren Uhr, die keine Pausen erlaubt. Doch in dieser Bewegung steckt auch eine Tragik: Oberflächlichkeit, Gesprächsarmut, Zeitnot.
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Der Ortsfeste: scheinbar passiv, aber möglicherweise der wahre Denker. Ihm gehört die Tiefe, die Dauer, das gründliche Gespräch. Doch seine Existenz bleibt aus der Perspektive des Mobilen diffus, hypothetisch.
Die Spannung zwischen diesen Typen ist keine bloße soziologische Unterscheidung, sondern verweist auf eine ontologische Polarität: Bewegung steht für Werden, Stillstand für Sein. Der Text legt nahe, dass in unserer Gegenwart Bewegung oft überbewertet wird – nicht, weil sie schlecht ist, sondern weil sie entgrenzt und zur bloßen Flucht entartet.
3. Zeit, Ort und Priorität
Ein zentraler Punkt des Textes ist die Reflexion über die Aussage: „Ich habe keine Zeit.“ Die Pointe: Zeitnot ist nur dann real, wenn man glaubt, an einem anderen Ort mit höherer Priorität sein zu müssen. Zeit wird hier nicht als physikalisches Kontinuum, sondern als Relation zwischen Orten verstanden. Für Ortsfeste entfällt diese Relation – es gibt keinen „besseren Ort“, daher auch keine Zeitnot.
Diese originelle Umdeutung zeigt: Zeit ist kein neutrales Medium, sondern ein Produkt subjektiver Wertungen und Mobilitätslogiken. Hier klingt ein tiefes phänomenologisches Zeitverständnis à la Heidegger mit: Zeit ist immer „meine Zeit“, im Horizont meiner Projekte und Bewegungen.
4. Ironie und Selbsterkenntnis
Wie so oft bei Proemial ist der Text nicht nur Reflexion, sondern ironisch gebrochene Selbstbeobachtung. Die Figur des „Mobilen“ spürt, dass ihre Existenzform nicht nur befreiend, sondern auch erschöpfend und entleerend ist. Gespräche werden oberflächlicher, das Denken fragmentierter. Der Wunsch, irgendwann „zum Ortsfestentum zu konvertieren“, ist kein Scherz – sondern eine unterschwellige Sehnsucht nach Dauer, Tiefe und Entlastung.
Die Mobilität, einst ein Ideal der Moderne (Freiheit, Offenheit, Kosmopolitismus), ist hier zu einem Zwangskreislauf geworden – vergleichbar mit Byung-Chul Hans Kritik an der „Müdigkeitsgesellschaft“, in der das Subjekt sich durch permanente Aktivität selbst erschöpft.
5. Philosophisches Fazit: Die Bewegung als Mythos
Der Text „Mobilität vs. Ortsfestentum“ verhandelt kein triviales Thema, sondern die große Frage: Wie leben wir sinnvoll in der Zeit? Er spielt mit den Erwartungen an Fortschritt und Bewegung und dekonstruiert sie in einem minimalistischen Stil. Dabei schafft er es, auf humorvolle Weise den Glauben an das Immer-Neue infrage zu stellen und gleichzeitig eine stille Lanze zu brechen für das Bleiben, für das Nicht-Wechseln, für das Aushalten.
Der Montag wird damit zur symbolischen Projektionsfläche: Wenn jeder Tag ein Montag ist, ist keiner mehr besonders. Und wenn jeder immer unterwegs ist, ist vielleicht gerade das Bleiben der wahre Aufbruch.
Literatur- und Denkanknüpfungen:
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Heidegger: Sein und Zeit – Zeit als Existenzial, nicht als messbare Größe
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Adorno: Minima Moralia – Kritik an der gesellschaftlichen Mobilität als Selbstzweck
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Byung-Chul Han: Müdigkeitsgesellschaft, Die Errettung des Schönen
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Zygmunt Bauman: Liquid Modernity – Mobilität als Zeichen postmoderner Unsicherheit