Es ist ein leiser, aber radikaler Text. In der scheinbaren Einfachheit seines Szenarios verbirgt sich eine vielschichtige Reflexion über Perspektivität, biologische Determiniertheit und die Relativität dessen, was wir als „Realität“ begreifen. Der Vortrag ist damit nicht nur eine Hommage an das Pflanzendasein, sondern auch ein Plädoyer für epistemische Bescheidenheit und Offenheit gegenüber dem Anderen – selbst wenn dieses Andere uns unbeweglich, bedeutungslos oder unverständlich erscheint.
Sehr geehrte Zuhörer!
Nun ist es tatsächlich passiert. Ich bin zum Ortsfestentum konvertiert. Als ehemals permanent Mobiler habe ich mich entschieden, die ganze Sache etwas gelassener anzugehen. Früher hatte ich mich immer gefragt, worüber die Ortsfesten den ganzen Tag so nachdenken, denn die haben ja nicht wirklich viel zu tun. Gesprochen hatte ich aber nie mit einem. Also alles nur Mutmaßungen. Das Erste, was ich festgestellt hatte, nachdem ich konvertiert war, ist, dass man sich als Ortsfester nicht mehr so viel merken muss. Man kann wirklich sagen, dass das sogenannte Gedächtnis völlig überbewertet ist. Wozu soll das auch gut sein? Die Mobilen sind ständig unterwegs und erfassen dabei, bewusst oder unbewusst, alle Zusammenhänge von Bewegung und sensorischem Feedback und erlernen dadurch ihre Sicht der Welt. Alles zu dem Zweck, als Mobiler ohne größere Probleme mobil sein zu können. Was für ein Aufwand! Ich brauche das alles nicht mehr und merke auch schon, wie sich meine Sehkraft zurückentwickelt, einfach weil ich mich nicht mehr bewege. Ich würde nicht sagen, dass dabei etwas verloren geht, es ist einfach überflüssig geworden. Ich weiß nicht, ob sich das auch wieder umkehren lässt. Vermutlich schon. Es sind jetzt einfach andere Dinge wichtig geworden. Denn man ist nicht einfach nur unbeweglich, wie das den mobilen Einheiten vielleicht vorkommen mag. Das ist überhaupt nicht der Fall. Man entwickelt eine wirklich unheimlich komplexe, weitreichende Verbindung mit allem, was den Ort betrifft. Man ist buchstäblich verwurzelt. Die Art der Kommunikation ist eine völlig andere. Alles läuft über den Austausch chemischer Verbindungen, statt über optische oder akustische Muster. Und dieser Austausch ist enorm reichhaltig, aufgrund der Vielzahl möglicher Kombinationen von unterschiedlichsten Verbindungen unterschiedlichster Konzentration. Und nicht zu vergessen, die kleinen und kleinsten Lebewesen, die permanent an der ganzen Sache beteiligt sind. Ich muss zugeben, dass ich die Ortsfesten immer unterschätzt habe, gewaltig unterschätzt, was Reichhaltigkeit und Komplexität ihrer Kommunikation angeht. Ich habe das immer nur aus der Sicht der Mobilen gesehen. Wie hätte ich es auch anders sehen können? Nun weiß ich, dass alles ganz anders ist. Nur verliere ich langsam die Erinnerung an mein altes Dasein. Ich fürchte, dass nicht beides zugleich gehen kann, als die eine Version aktiv sein und gleichzeitig die Erinnerungen an die andere Version behalten. Es wird vermutlich nicht mehr lange dauern, bis ich keine Erinnerung mehr haben werde an meine Zeit als mobile Einheit. Das wird sogar so weit gehen, dass ich nicht einmal mehr wissen werde, was eine mobile Einheit überhaupt ist. Diese Welt wird aufgehört haben zu existieren. Jedenfalls für mich. Während ich für die weiterhin existierenden mobilen Einheiten, einfach nur ein unbewegliches Ding sein werde. Ein Ding ohne größere Bedeutung. Nicht besonders beachtenswert. Auf keinen Fall so bedeutsam wie ein Mobiler. Denn ich kann mich ja nicht einmal ein kleines bisschen bewegen. Und wenn alle Sinneseindrücke der Mobilen letztendlich untrennbar mit ihrer Mobilität verbunden sind, na ja, dann ist es eben nicht verwunderlich, dass die die Welt nur auf diese Art und Weise sehen können. Fast ein wenig bemitleidenswert. Gut, es scheint eben nicht anders zu gehen. Am Ende ist man Sklave seiner Biologie, die bestimmt, in welcher Welt man lebt, auch wenn es ein wenig kurios erscheint. Aber wer hat schon, so wie ich, die Möglichkeit, auch einmal eine andere Seite zu sehen. Ich sage nicht, DIE andere Seite. Das wäre anmaßend. Denn wer weiß, wie viele Seiten es noch gibt. In diesem Sinne. Eine gute Nacht!
Analyse
Der Vortrag ist ein ebenso poetischer wie philosophischer Monolog, in dem ein Ich-Erzähler von seiner Konversion zum „Ortsfestentum“ berichtet. Was zunächst wie eine skurrile Anekdote klingt, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als tiefgründige Allegorie über das Verhältnis von Bewegung und Wahrnehmung, Erinnerung und Identität, Fremdheit und Selbstverständlichkeit. Der Text verhandelt auf raffinierte Weise das Spannungsfeld zwischen dem mobilen und dem ortsfesten Dasein – und damit letztlich zwischen unterschiedlichen Formen des Seins, der Kommunikation und des Weltbezugs.
Die Metapher der Konversion
Zentral ist die metaphorische Transformation des Sprechers: Er wechselt von einem „permanent Mobilen“ zu einem „Ortsfesten“. Gemeint ist damit nicht nur ein Ortswechsel oder ein Wandel des Lebensstils, sondern ein radikaler Perspektivwechsel, der alle Ebenen der Existenz betrifft: Wahrnehmung, Denken, Kommunikation und Selbstverständnis. Die Rede von einer „Konversion“ legt nahe, dass es sich um einen bewussten Akt handelt – fast religiös anmutend –, der mit einem tiefgreifenden Wandel einhergeht. Die körperliche Immobilität ist dabei nur Ausdruck eines tieferliegenden Paradigmenwechsels.
Gedächtnis und Wahrnehmung
Eine der ersten Einsichten des „Konvertiten“ betrifft das Gedächtnis. Aus der Sicht der mobilen Lebensform ist das Erinnern zentral: Es ermöglicht Orientierung, Lernen und Handlung. Doch im Zustand der Ortsfestigkeit verliert das Gedächtnis seine Bedeutung. Wahrnehmung wird nicht mehr durch Bewegung strukturiert, sondern durch langfristige chemische Wechselwirkungen mit der Umgebung. Der Verlust von Sehkraft und Erinnerung wird nicht als Defizit empfunden, sondern als logische Folge einer neuen Existenzweise – ja sogar als Befreiung von einem unnötigen Ballast.
Kommunikation ohne Sprache
Ein zentrales Motiv ist der Wandel in der Art der Kommunikation. Wo zuvor optische oder akustische Reize dominierten, tritt nun der Austausch chemischer Signale. Der Vortrag verweist damit auf Erkenntnisse aus der Pflanzenforschung, die zeigen, dass Pflanzen über Wurzelsysteme, Botenstoffe und Symbiosen mit Mikroorganismen miteinander „kommunizieren“. Die neue Kommunikation ist still, komplex, subtil – und für mobile Wesen unsichtbar. Diese Umstellung markiert auch einen epistemologischen Bruch: Der Sprecher erkennt, dass er die Ortsfesten stets unterschätzt hat, weil er sie nur aus der eigenen, bewegungszentrierten Perspektive wahrnahm.
Das Verschwinden des Alten Selbst
Eine besonders eindringliche Passage ist die Beschreibung des Verlustes der Erinnerung an das frühere mobile Dasein. Es wird deutlich, dass die Koexistenz beider Perspektiven unmöglich ist: Wer das eine voll annimmt, muss das andere hinter sich lassen. Identität erweist sich als fluide, an biologische Voraussetzungen gebunden – und zugleich als begrenzt durch diese Voraussetzungen. Die eigene Vergangenheit wird zur fremden Welt, ja: sie hört auf zu existieren. Dies verweist auf eine existenzielle Entfremdung, die auch als Reflexion über das Altern, über geistige Transformation oder sogar über den Tod gelesen werden kann.
Die Kritik an der mobilen Perspektive
Der Text ist aber nicht nur ein Bericht über eine neue Perspektive, sondern auch eine implizite Kritik an der alten. Die Mobilen erscheinen als gefangen in ihrer Beweglichkeit, unfähig, andere Formen des Daseins wahrzunehmen oder zu würdigen. Ihre Sicht auf die Welt ist einseitig, ihre Sinneseindrücke an Bewegung gebunden. In einem beinahe mitleidigen Ton beschreibt der Sprecher die Begrenztheit dieses Weltzugangs. Damit stellt der Text auch eine grundsätzliche Frage: Gibt es eine Hierarchie der Existenzweisen – oder nur unterschiedliche, einander fremde Modi des Seins?
Biologie als Grenze und Möglichkeit
Die vielleicht tiefste Aussage des Textes findet sich in der Feststellung: „Am Ende ist man Sklave seiner Biologie.“ Hier kulminiert die Reflexion in einer erkenntnistheoretischen These: Unsere Welterfahrung ist nie neutral oder absolut, sondern immer durch unsere biologischen Voraussetzungen gefiltert. Das mag auf den ersten Blick ernüchternd wirken, doch der Text schlägt einen versöhnlichen Ton an. Denn obwohl diese Begrenzung besteht, kann es – in seltenen Fällen – gelingen, die Perspektive zu wechseln und eine andere Seite des Daseins zu erfahren. Nicht „die“ andere Seite, wie der Sprecher betont, denn das wäre anmaßend – sondern lediglich eine andere unter vielen möglichen.
Fazit: Eine leise, radikale Erkenntnis
Es ist ein leiser, aber radikaler Text. In der scheinbaren Einfachheit seines Szenarios verbirgt sich eine vielschichtige Reflexion über Perspektivität, biologische Determiniertheit und die Relativität dessen, was wir als „Realität“ begreifen. Der Vortrag ist damit nicht nur eine Hommage an das Pflanzendasein, sondern auch ein Plädoyer für epistemische Bescheidenheit und Offenheit gegenüber dem Anderen – selbst wenn dieses Andere uns unbeweglich, bedeutungslos oder unverständlich erscheint. Am Ende bleibt die Ahnung, dass es viele Formen des Seins gibt – und dass jede davon ihre eigene Wahrheit birgt.
If I were a plant..
A subtle and eloquent meditation on the relativity of experience. By imagining the self as a plant, the text destabilizes human-centric assumptions and urges a rethinking of intelligence, awareness, and meaning. It suggests that every way of being, no matter how alien it may seem, is a valid window onto reality—shaped by biology, but rich with its own kind of depth and significance.
Dear listeners,
Well, it has actually happened. I’ve converted to local fixity. As a formerly permanently mobile individual, I’ve decided to take things a bit more calmly. I used to wonder what those who are fixed in one place think about all day, since they don’t really seem to have much to do. But I never spoke to one. So it was all just speculation.
The first thing I noticed after I converted is that, as someone who is now stationary, you don’t have to remember as much. One could really say that the so-called memory is completely overrated. What’s it even good for? The mobile ones are constantly on the move, consciously or unconsciously picking up on the interplay between movement and sensory feedback, and through that, developing their view of the world — all for the purpose of being able to stay mobile without too much trouble. What an effort! I don’t need any of that anymore, and I can already feel my vision deteriorating, simply because I no longer move. I wouldn’t say anything is being lost — it’s just no longer necessary.
I don’t know if this process can be reversed. Probably. It’s just that other things have become important now. Because being fixed in one place doesn’t mean being passive, as the mobile units might think. That’s absolutely not the case. You develop an incredibly complex, far-reaching connection to everything related to the place. You are, quite literally, rooted.
The way communication works is completely different. Everything happens through the exchange of chemical compounds rather than through optical or acoustic patterns. And this exchange is incredibly rich, due to the vast number of possible combinations of different substances at different concentrations. Not to mention the small and tiniest organisms that are constantly involved in the whole process.
I have to admit that I always underestimated the stationary ones — vastly underestimated them in terms of the richness and complexity of their communication. I always saw it only from the mobile perspective. How could I have seen it any other way?
Now I know that everything is completely different. Only, I’m slowly losing the memory of my former existence. I fear that it’s not possible to live as one version while retaining the memories of the other. It probably won’t be long before I no longer remember my time as a mobile unit. It’ll go so far that I won’t even know what a mobile unit is anymore. That world will have ceased to exist — at least for me.
Meanwhile, for the mobile units that still exist, I will simply be an immobile object. A thing of little significance. Not especially noteworthy. Certainly not as important as a mobile one. After all, I can’t even move the slightest bit. And if all sensory impressions of mobile beings are ultimately inseparable from their mobility, well then, it’s no wonder that they can only see the world that way. Almost a bit pitiable.
Well, it seems there’s no other way. In the end, we are slaves to our biology, which determines what kind of world we live in — even if that seems a bit odd. But who really has the opportunity, like I do, to see another side? I’m not saying the other side. That would be presumptuous. Because who knows how many sides there really are.
With that in mind — good night!
Analysis
In the fictional lecture the speaker delivers a profound and introspective account of their transformation from a mobile being to a stationary one—a shift that serves as an extended metaphor for a transition from a human or animal-like perspective to a plant-like mode of existence. Far from a mere exercise in speculative fiction, the text invites readers to reflect on fundamental concepts such as identity, perception, memory, and the diversity of consciousness. Through poetic language and philosophical musing, it challenges the reader to consider how biological form and function shape one’s view of the world, and how deeply one’s assumptions are embedded in mobility-centered thinking.
At the heart of the lecture is the metaphor of "conversion to local fixity." The speaker, once a "permanently mobile" being, now embraces a life rooted in one place. This transformation is not merely physical but existential: they are no longer engaged in the world through movement, vision, and memory, but through a different kind of awareness—one that is chemically communicative and ecologically integrated. The plant-like identity they assume operates within a vastly different sensory and cognitive framework, where vision fades, memory dissolves, and yet richness emerges through stillness and rootedness.
One of the most striking themes in the text is the critique of anthropocentric and mobility-based perspectives. The speaker reflects on their former misconceptions about stationary beings, having previously assumed they lacked complexity or purpose. This bias is not uncommon in human thought, which often equates activity, movement, and verbal communication with intelligence or value. However, the speaker reveals that fixed beings possess a form of intelligence that is radically different—non-visual, non-verbal, yet deeply interconnected. Through the exchange of chemical signals and interaction with microorganisms, they experience a layered and nuanced reality that mobile beings are incapable of perceiving.
This shift in sensory and cognitive priorities—away from sight and memory toward chemical interaction—raises important philosophical questions about the nature of consciousness. The text suggests that perception is not objective or universal but deeply contingent on biology. A being's mode of existence defines not only how it navigates the world but what the world even is for them. When the speaker notes they are "slowly losing the memory" of their mobile existence, it is not portrayed as tragic. Instead, it reflects the necessity of letting go of one form of consciousness to fully inhabit another.
The speaker's reflection also carries a melancholic undertone of isolation. They acknowledge that for the remaining mobile beings, they have become just “an immobile thing... of little significance.” The asymmetry of understanding between mobile and stationary beings echoes broader existential and ecological themes: the difficulty of true empathy across different life forms or perspectives, and the danger of dismissing what we cannot understand. In this way, the lecture not only critiques a limited worldview but also invites humility in the face of the unknown.
The text concludes with a quiet yet powerful realization: that biology determines perception, and perception shapes reality. The speaker accepts the inevitability of this framework, acknowledging that they, like all beings, are “slaves to [their] biology.” Yet instead of despair, the tone is one of peaceful acceptance—an appreciation for having glimpsed another way of being, even if only temporarily. Importantly, the speaker resists the temptation to declare this new mode as the true or superior perspective. “I’m not saying the other side,” they clarify. “That would be presumptuous.” This closing remark serves as a reminder that truth may have many sides—many worlds, in fact—each legitimate within its own biological and existential context.
In sum, the lecture is a subtle and eloquent meditation on the relativity of experience. By imagining the self as a plant, the text destabilizes human-centric assumptions and urges a rethinking of intelligence, awareness, and meaning. It suggests that every way of being, no matter how alien it may seem, is a valid window onto reality—shaped by biology, but rich with its own kind of depth and significance.