All und Alles

Der Text lässt sich lesen als eine meditative Reflexion über Übergänge – vom Nichts zum Etwas, von Stille zur Bewegung, von Leere zur Begegnung. Er fordert keine These ein, sondern öffnet einen Raum des Nachdenkens. In einer Zeit, in der Ganzheit und Kontrolle oft technokratisch simuliert werden, erinnert er an die philosophische Grundhaltung der Zuspitzung auf das Fragwürdige.

Was kommt danach? Nach der großen Leere? Das vollständige Zerfließen ist vorüber. Keine Punktualität. Nur noch ein gleichmäßiges Summen. Und doch fängt es wieder an. Es sammelt seine Kräfte. Tastet seine Umgebung ab. Das tun viele. Überall und ständig. Ein unverhofftes Aufeinandertreffen birgt Möglichkeiten, die noch weniger als unmöglich scheinen. Das war alles schon da. So passiert es immer wieder. Man schaut sich um in der Unendlichkeit mit der Begrenztheit seiner Möglichkeiten und meint, das All und Alles zu erblicken.

Analyse

Der Text „All und Alles“ umkreist eine existentielle Schwelle: den Zustand nach der totalen Auflösung – nach der „großen Leere“ – und die vage, fast vorsichtige Bewegung in eine neue, undefinierbare Form von Sein. In poetischer, dichter Sprache denkt der Text über Entgrenzung, Wiederbeginn und die Bedingungen menschlicher Wahrnehmung nach. Im Zentrum steht das Spannungsfeld zwischen Totalität (das „All“) und individueller Erkenntnisperspektive (das „Alles“), das stark an existenzialistische, phänomenologische und kosmologische Denkweisen erinnert.

 

1. Die große Leere – Zerfall als Ausgangspunkt

„Was kommt danach? Nach der großen Leere? Das vollständige Zerfließen ist vorüber.“

Der Text beginnt mit einem Zustand des Nach-dem-Ende, einer post-apokalyptischen Atmosphäre. Diese „große Leere“ evoziert metaphysische Entleerung – vergleichbar mit dem „Tod Gottes“ bei Nietzsche, mit dem „Schweigen des Seins“ bei Heidegger, oder mit dem „Nichts“ im Zen-Buddhismus.

Das „vollständige Zerfließen“ verweist auf einen Prozess radikaler Auflösung von Formen und Identitäten. Was bleibt, ist eine homogene Struktur ohne Differenz: „Keine Punktualität. Nur noch ein gleichmäßiges Summen.“ Dieser Zustand ist nicht Zerstörung, sondern eher eine Form der totalen Entdifferenzierung, wie sie etwa bei Jean-François Lyotard in der postmodernen Konzeption von „Différance“ auftaucht – ein Raum, in dem Bedeutung weder fixiert noch verweigert ist.

 

2. Wiederbeginn und Bewegung – Das sich sammelnde Etwas

„Und doch fängt es wieder an. Es sammelt seine Kräfte. Tastet seine Umgebung ab.“

Der entscheidende Wendepunkt: Aus dem Zustand der Leere beginnt etwas Neues – nicht abrupt, sondern tastend, vorsichtig, suchend. Diese Formulierung erinnert an Deleuzes Idee des Werdens: Veränderung ist kein Zielgerichtetes, sondern ein rhizomatischer, kontingenter Prozess – ein Zustand der Möglichkeit.

Das Sammeln von Kräften, das Abtasten, verweist auf eine vorsprachliche, proto-subjektive Aktivität – vergleichbar mit dem es lebt bei Freud, dem „Dasein“ bei Heidegger oder der vorsprachlichen Intentionalität bei Merleau-Ponty. Es ist kein klassisches Subjekt, das hier handelt, sondern etwas noch Unbestimmtes, vielleicht sogar kosmisch-anonymes.

 

3. Das Unverhoffte – Begegnung als Möglichkeitsraum

„Ein unverhofftes Aufeinandertreffen birgt Möglichkeiten, die noch weniger als unmöglich scheinen.“

Dieser Satz ist zentral: Die Wiederkehr des Sinns erfolgt nicht aus Planung, sondern aus der Begegnung. Das „unverhoffte Aufeinandertreffen“ lässt sich als das Andere, das Überraschende, das radikal Fremde interpretieren – es ist das, was nicht erwartet wurde, aber dennoch geschieht. In dieser Formulierung steckt eine Existenzphilosophie der Offenheit – ähnlich wie bei Emmanuel Lévinas, der in der Begegnung mit dem Anderen den Ursprung von Ethik sieht.

Dass diese Möglichkeiten „weniger als unmöglich“ scheinen, ist eine paradoxe Wendung. Sie unterläuft den klassischen Möglichkeitsbegriff: Es geht nicht um das Wahrscheinliche, sondern um das scheinbar völlig Unvorstellbare, das dennoch Wirklichkeit initiiert.

 

4. Das All und das Alles – Perspektive als Illusion?

„Man schaut sich um in der Unendlichkeit mit der Begrenztheit seiner Möglichkeiten und meint, das All und Alles zu erblicken.“

Hier kulminiert der Text in einer erkenntnistheoretischen Pointe: Der Mensch bewegt sich mit begrenzter Wahrnehmung durch ein unendliches All – und bildet sich ein, dieses Alles zu erfassen. Diese Spannung zwischen subjektiver Endlichkeit und kosmischer Totalität durchzieht die Philosophie seit Kant: Wir haben keinen Zugang zum „Ding an sich“, sondern nur zu Erscheinungen, vermittelt durch Raum, Zeit und Kategorien.

Das „All“ steht hier für das unermessliche Universum, das „Alles“ für die Vorstellung davon, dass wir es begreifen könnten – also für den menschlichen Anspruch auf Totalität, der jedoch immer durch Perspektivität begrenzt bleibt. Dieses Auseinanderfallen ist tragisch, aber auch produktiv: Es zwingt zu Demut, Offenheit und Beweglichkeit des Denkens.

 

Fazit: Die metaphysische Zäsur als Beginn des Denkens

Der Text „All und Alles“ lässt sich lesen als eine meditative Reflexion über Übergänge – vom Nichts zum Etwas, von Stille zur Bewegung, von Leere zur Begegnung. Er fordert keine These ein, sondern öffnet einen Raum des Nachdenkens. In einer Zeit, in der Ganzheit und Kontrolle oft technokratisch simuliert werden, erinnert er an die philosophische Grundhaltung der Zuspitzung auf das Fragwürdige.

Philosophie beginnt nicht mit dem Wissen, sondern mit dem Erstaunen über das, was nicht aufgeht. Und genau hier liegt der Wert dieses Textes: in seiner poetischen Auslotung dessen, was zwischen dem „Zerfließen“ und dem „Erblicken“ liegt – ein Raum für das, was war, was ist, und was möglich wird.

 

Weiterführende Referenzen:

  • Martin HeideggerWas ist Metaphysik?, zum Thema „Nichts“

  • Immanuel KantKritik der reinen Vernunft, Erkenntnistheorie und Begrenztheit der Anschauung

  • Gilles DeleuzeDifférence et répétition, zu Dynamiken des Werdens

  • Jean-François LyotardLa condition postmoderne, über Unauflösbarkeit von Totalität

  • Maurice Merleau-PontyPhänomenologie der Wahrnehmung, vorsprachliche Orientierung

  • Emmanuel LévinasTotalität und Unendliches, über Ethik und Begegnung mit dem Anderen