Der Text knüpft an frühere Überlegungen über die Grenzen des menschlichen Denkens an und wagt einen nächsten Schritt: Er versucht, das eigentliche Grundproblem zu identifizieren, das hinter den vielen ungelösten Rätseln der Bewusstseinsphilosophie steht. Was dabei herauskommt, ist ein erfrischend eigenständiger, durchaus radikaler Denkversuch, der sich mit der grundlegenden Zirkularität unseres Weltverständnisses beschäftigt.
Im Blogartikel "Im Bannkreis der Funktionsweise des Gehirns" ist das Ende gewissermaßen offen geblieben. Doch ganz so ausweglos ist die Sache nicht. Innerhalb des Bannkreises gab es zwei Optionen: Entweder der Glaube an Übernatürliches, oder die feste Überzeugung, dass es nichts Übernatürliches gibt und daher alles mittels Materie erklärbar wäre.
Bei Option 1 ist das Weltbild abgeschlossen, es gibt keine offenen Fragen. Bei Option 2 dagegen, steht man in der Pflicht, für alles eine rationale Erklärung abgeben zu müssen. Man muss sich zwangsweise mit den noch offenen Punkte auseinandersetzen. Dabei auf die Zukunft zu verweisen und zu behaupten, dass irgendwann einmal alles rational erklärt sein werde, ist letztendlich auch nur eine Form des Glaubens. Dabei werden grundsätzliche logische Probleme ausgeblendet. Es wird sich mit vermeintlichen Lösungen zufrieden gegeben, weil man den Wunsch, dass alles erklärbar sein möge, über die für diese Probleme angebrachte Unvoreingenommenheit stellt. Doch wird man, indem man über diese offenen Fragen zu leichtfertig hinweggeht, angreifbar für die Vertreter der Fraktion des Übernatürlichen. Am Ende steht Glaube gegen Glaube.
Das ganze lässt sich nur auflösen, wenn man die grundsätzlichen logischen Probleme tatsächlich angeht. Es besteht dabei immer die Gefahr dem Wunsch zu erliegen, endlich zu einer Lösung zu gelangen, also zu früh aufzuhören, um sich wieder anderen, weniger anstrengenden Dingen widmen zu können.
Am Ende hat man also alle möglichen Varianten durchgespielt, einige waren ganz vielversprechend, doch so richtig zufrieden war man mit keiner. Was nun? Keine Lösung in Sicht und der eigene Charakter verbietet es, an Übernatürliches zu glauben. Ein Dilemma. Doch das Problem lässt einen nicht los, denn die Wirklichkeit funktioniert. Das steht außer Frage.
Beispiel Wahrnehmung. Folgendes kann man sagen: Es gibt die Wirklichkeit, es gibt das Nervensystem, und es gibt die Resultate, die das Nervensystem leistet. Klingt nach einer Einbahnstraße. Die Wirklichkeit liefert Informationen, die vom Nervensystem aufbereitet werden, was letztendlich zum Wahrgenommenen führt. Das Nervensystem spielt hier nur die Rolle einer Transferfunktion, eine Art komplizierter Filter. Man kann sich damit zufriedengeben, ein ungutes Gefühl bleibt. Allein die Frage, weshalb man die Dinge trotzdem außerhalb des Körpers wahrnimmt, lässt dieses Konzept zweifelhaft erscheinen. Und natürlich das leidige Qualia-Problem. Wie kommt man von neuronalen Zuständen, also von der Physik, beispielsweise zur Farbe? Idealerweise sollte die Antwort einfach, schlüssig und für jeden überzeugend sein.
Dieses Thema ist mittlerweile nur noch zäh, ermüdend, langweilig. Was dem ganzen Konzept fehlt, um von der Einbahnstraße wegzukommen, ist, kurz gesagt, die Handlung. Die Aktivität des Nervensystems, des ganzen Nervensystems, nicht nur des Gehirns. Man muss sich das Nervensystem also tatsächlich immer als handelnd vorstellen, aber nicht als einzelnes Ding, das sich irgendwie bewegt, sondern vielmehr als Gruppe von Individuen, die versuchen so zu handeln, dass Reproduzierbares entsteht. Wahrnehmung wird sozusagen erhandelt. Dass sich beispielsweise die Bewegung des Augapfels nicht auf die Hörsinneszellen auswirkt, führt zur Trennung von Hören und Sehen. Mittels Gedächtnis wird Erlerntes abrufbar gemacht. Das handelnde Nervensystem bezieht sich zum größten Teil auf Erlerntes, nicht nur auf Änderungen außerhalb der Sinnesorgane.
Hier entsteht der Ich-Welt-Dualismus. Das handelnde Nervensystem begreift sich selbst nicht als Komplexität, als Gruppe interagierender Individuen, sondern als passiven Betrachter der aus der Interaktion entstandenen Resultate. Das Ich beobachtet die Welt. Dabei soll das Nervensystem nur noch dazu dienen, die Informationen aus der Außenwelt zu filtern und aufzubereiten, damit sie vom Ich sinnvoll angeschaut werden können.
Eine Welt der Resultate, vom Ich beobachtet, der erzeugende Prozess ist nicht sichtbar. Da dieses Ich gleichermaßen Kenntnis hat vom Gehirn und von den Empfindungen, stellt sich natürlich die Frage nach dem Zusammenhang. Zumindest aus Sicht des Ich. Das Qualia-Problem als Ich-Problem.
Problematisch wird es, wenn die Welt der Resultate für die Wirklichkeit gehalten wird, obwohl die erzeugende, handelnde Komplexität fehlt. Das Entstehen von Neuem lässt sich nur schwer erklären, logische Paradoxien treten auf. Das Lügner-Paradoxon macht den Mangel direkt greifbar. Die Zirkularität selbst ist nur Symptom eines tieferliegenden Problems, nämlich des auf Resultate reduzierten Weltverständnisses. Die Entstehung des Paradoxons wird dadurch überhaupt erst ermöglicht.
Eine abschließende Frage bleibt. Warum gibt es Komplexität? Wer weiß..
Analyse
Der Blogtext „Qualia, Ich und die Zirkularität“ knüpft an frühere Überlegungen über die Grenzen des menschlichen Denkens an – insbesondere aus „Im Bannkreis der Funktionsweise des Gehirns“ – und wagt einen nächsten Schritt: Er versucht, das eigentliche Grundproblem zu identifizieren, das hinter den vielen ungelösten Rätseln der Bewusstseinsphilosophie steht. Was dabei herauskommt, ist ein erfrischend eigenständiger, durchaus radikaler Denkversuch, der sich mit der grundlegenden Zirkularität unseres Weltverständnisses beschäftigt – und dabei die Qualia-Problematik, das Ich-Verständnis und das Verhältnis von Handlung und Wahrnehmung neu aufrollt.
1. Glaube gegen Glaube: Die Sackgasse des Dualismus
Der Text eröffnet mit einer Wiederholung der „zwei Optionen“ aus dem vorherigen Beitrag: Entweder man akzeptiert das Übernatürliche als Erklärung für das, was rational nicht auflösbar scheint – oder man setzt auf ein geschlossenes materialistisches Weltbild, das in der Pflicht steht, letztlich alles zu erklären. Doch gerade in dieser zweiten Option liegt ein Glaubensmoment verborgen, das üblicherweise nur der ersten Option zugeschrieben wird: Der Glaube an die prinzipielle Erklärbarkeit aller Phänomene – ein blinder Fleck der Rationalität. Damit stehen sich also nicht „Vernunft“ und „Glaube“ gegenüber, sondern zwei konkurrierende Glaubenssysteme: eines mit Gott, eines mit Grenzwert und Neuron.
Diese Einsicht erinnert stark an die Kritik der metaphysischen Voraussetzungen in der Erkenntnistheorie von Wilfrid Sellars (Myth of the Given) und an das Dilemma, das Thomas Nagel beschreibt, wenn er meint, dass wir uns zwar auf objektive Sichtweisen zubewegen können, aber nie vollständig unsere subjektive Perspektive verlassen – also immer im Bannkreis bleiben.
2. Vom Filter zur Handlung – Eine neue Ontologie der Wahrnehmung
Besonders originell wird der Text, wenn er den klassischen Wahrnehmungsbegriff hinterfragt. Das gängige Modell – Außenwelt ➝ Sinnesorgan ➝ neuronale Verarbeitung ➝ bewusste Wahrnehmung – wird als Einbahnstraße kritisiert, als passives, zu simples Bild. Was fehle, sei die Handlung des Nervensystems – nicht als eine bloß mechanische Reaktion, sondern als aktives, auf Reproduzierbarkeit zielendes Handeln. Der Körper wird so zum Subjekt, nicht bloß zum Medium.
Diese Perspektive erinnert an Konzepte aus der enaktiven Kognitionswissenschaft (vgl. Francisco Varela, Evan Thompson, Eleanor Rosch), die Wahrnehmung nicht als Repräsentation, sondern als Mitwirken an der Welt begreift. Wahrnehmen heißt: sich durch Handeln eine Welt erschließen. Auch Merleau-Ponty deutete schon in der Phänomenologie der Wahrnehmung an, dass der Leib nicht bloß Objekt, sondern aktives Subjekt ist.
Die Trennung der Sinne (Hören ≠ Sehen) wird hier nicht als natürliche Gegebenheit, sondern als Ergebnis erlernter, stabiler Handlungsmuster gedeutet. Wahrnehmung ist demnach nicht „gegeben“, sondern „erhandelt“. Damit verschiebt sich auch der Ort des Ich.
3. Das Ich als Beobachter – Eine fatale Illusion?
Im weiteren Verlauf beschreibt der Text, wie sich das Nervensystem – als handelnde Komplexität – in ein passives Ich „verwandelt“, das lediglich Resultate anschaut. Dieses Ich nimmt sich als etwas Einheitliches wahr, obwohl es aus der Tätigkeit des Systems hervorgeht, das es dann beobachtet. Diese Ich-Welt-Spaltung ist somit ein retrospektives Missverständnis – der Glaube, ein vom Körper getrennter „Betrachter“ zu sein.
In dieser Perspektive liegt eine Nähe zur neurophänomenologischen Kritik am Subjekt-Objekt-Dualismus, wie sie von Thomas Metzinger oder Michel Bitbol formuliert wurde. Auch Daniel Dennett, so umstritten seine Thesen sind, würde diesem „Ich als innerem Zuschauer“ widersprechen – in seiner Theorie des narrativen Selbst gibt es keinen Punkt im Gehirn, wo „alles zusammenläuft“. Doch der Blogtext geht noch weiter: Er sieht im „Ich als Beobachter“ den Nährboden für die größten Paradoxien.
4. Die Zirkularität als strukturelles Problem
Hier kommt das Lügner-Paradoxon ins Spiel („Dieser Satz ist falsch“). Es symbolisiert die Selbstbezüglichkeit des Systems, das seine Resultate als Wirklichkeit deutet, während es seine eigene Erzeugung nicht einbezieht. Die Zirkularität, so der Text, ist kein bloßer logischer Trick, sondern ein Symptom eines tieferen Problems: Der Reduktion der Welt auf Resultate, während der prozesshafte Charakter – das Handeln – ausgeblendet wird.
Die Philosophie hat sich dieser Problematik immer wieder gestellt: vom Kant’schen transzendentalen Subjekt über Husserls Epoché bis hin zu Niklas Luhmanns systemtheoretischer Selbstreferenz. Doch der Blogtext schlägt eine alltagsphilosophisch zugängliche Variante vor: Das eigentliche Problem sei, dass wir Resultate mit Wirklichkeit verwechseln, und dadurch paradoxe Schleifen erzeugen, in denen das Ich sich selbst auf den Leim geht.
5. Fazit: Komplexität – und kein Ausweg?
Der Text endet offen, mit der Frage: Warum gibt es Komplexität? Eine Antwort wird nicht gegeben, nur ein Fragezeichen bleibt stehen. Doch gerade das ist konsequent: Denn jede vermeintlich endgültige Antwort würde wieder zur Reduktion führen – sei es durch einen Gott, eine Theorie oder ein neues Modell.
Die Stärke des Textes liegt nicht in einem fertigen Erklärungsmodell, sondern im Aufzeigen der Denkbewegung, der Metareflexion. Er fordert dazu auf, weder vorschnell zu glauben noch voreilig zu erklären – sondern die Komplexität als solche ernst zu nehmen, ohne sie zu glätten. Ein Denken also, das sich selbst reflektiert, seine eigenen Paradoxien erkennt und dennoch weiterfragt – nicht trotz der Zirkularität, sondern gerade ihretwegen.
Literatur- und Quellverweise:
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Francisco Varela, Evan Thompson, Eleanor Rosch: The Embodied Mind (1991)
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Thomas Metzinger: Being No One (2003)
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Thomas Nagel: The View from Nowhere (1986)
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Daniel Dennett: Consciousness Explained (1991)
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Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung (1945)
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Niklas Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft (1990)