Schicksalsspiel

Ein meisterhaft verdichteter Text über die Tragik moderner Subjektivität. In einem einzigen inneren Monolog entfaltet sich eine ganze existenzielle Landschaft: Freiheit als Illusion, Bewusstheit als Fluch, Ablenkung als untaugliche Rettung. Wer das Spiel des Lebens als Spiel erkennt, verliert – oder lebt zumindest mit einer ironischen Distanz, die keine echte Teilnahme mehr erlaubt.

Worum es geht? Um drinnen oder draußen. Und darum, dass es eigentlich scheißegal ist, ob man drinnen oder draußen ist. Es gibt kaum einen Unterschied. Entscheidend ist der Blick auf die verhassten Anderen. Nur darum geht es. War für ein Haufen Blödsinn! Merkt das denn keiner? Ich glaube, dass die etwas ahnen. Es kann doch nicht sein, dass man überhaupt nichts merkt. Oder man weiß instinktiv, dass es sowieso kein Entkommen gibt. Also fügt man sich in seine Rolle. Spielt das Spiel. Und wenn man es schon spielt, dann wenigstens richtig. Diejenigen, die es am besten spielen, sind die, die nicht einmal wissen, dass es ein Spiel ist. Die sind unschlagbar. Die denken nicht nach, die spielen einfach. Da habe ich wohl keine Chance. Drinnen oder draußen. Am besten an etwas anderes denken. Etwas Angenehmes. Eine Ablenkung wird gebraucht. Und ich lasse mich doch so gern ablenken. Leider überhaupt nicht. Da kann man sich auch gleich totstellen. Ok, gleich müsste es losgehen. Auf die Gesichter bin ich gespannt. Erst Ungläubigkeit, dann Entsetzen. Was man doch in einem Bruchteil einer Sekunde über sich erfahren kann. Nur leider ist es zu spät, um etwas damit anfangen zu können. Ich spiele das Spiel. Das Schicksalsspiel. Ausgerechnet ich. Was für eine Ironie.

 

(Aus: P.H.‘s „Spiritwalker“, Klangwelt Magazin, 1983)

Analyse

P.H.s Text „Schicksalsspiel“ wirkt auf den ersten Blick wie ein kurzer innerer Monolog – ein Einzelner spricht über das Gefühl von Ausweglosigkeit, die Allgegenwart sozialer Rollen und das paradoxe Bedürfnis nach Ablenkung im Angesicht einer unausweichlichen Entscheidung. Doch dieser scheinbar banale Gedankenstrom birgt eine vielschichtige Reflexion über das Leben als Rollenspiel, das Verhältnis von Bewusstheit und Unbesiegbarkeit, und über die fundamentale Ironie der menschlichen Existenz.

 

1. Drinnen oder draußen: Die Illusion von Wahl

Der Text beginnt mit einer scheinbar simplen Unterscheidung: „Worum es geht? Um drinnen oder draußen.“ Diese Polarität – die traditionell auch für Zugehörigkeit oder Ausgrenzung, Freiheit oder Gefangenschaft stehen kann – wird sofort relativiert: „Es ist eigentlich scheißegal.“ Damit entlarvt der Text eine der zentralen Illusionen moderner Gesellschaften: die Vorstellung, dass es signifikante Wahlmöglichkeiten gebe, dass ein Ausweg aus dem „Spiel“ existiert.

Die Abwertung dieser Unterscheidung verweist auf ein Grundthema existenzialistischer Philosophie: die Sinnleere einer Welt, in der Kategorien wie „drinnen“ oder „draußen“ bloße Konstruktionen sind. Jean-Paul Sartre etwa betont in Das Sein und das Nichts (1943), dass der Mensch zur Freiheit verurteilt sei – aber genau diese Freiheit wird im Text von P.H. zur Farce. Denn was auch immer man wählt, man bleibt im „Schicksalsspiel“ gefangen.

 

2. Das Spiel – und seine unschlagbaren Spieler

Eine der schärfsten Beobachtungen im Text ist die Unterscheidung zwischen denen, die wissen, dass sie ein Spiel spielen, und denen, die es nicht wissen: „Diejenigen, die es am besten spielen, sind die, die nicht einmal wissen, dass es ein Spiel ist.“ Hier spitzt sich eine alte philosophische Debatte zu: Ist Reflexion ein Vorteil – oder macht sie das Leben unerträglicher?

Søren Kierkegaard beschrieb bereits in Entweder – Oder (1843), dass der reflektierte Mensch unweigerlich in die Verzweiflung über die Sinnlosigkeit seiner Rollen stürzt. Diejenigen hingegen, die unreflektiert leben, erscheinen bei P.H. als „unschlagbar“. Sie sind wie Kinder in Schillers Kind im Märchen, die spielen, ohne zu wissen, dass sie spielen. In gewisser Weise erinnert P.H. hier an Slavoj Žižeks Konzept der „ideologischen Naivität“: Die wahren Gewinner sind nicht jene, die das System durchschauen, sondern jene, die gar nicht erst fragen.

 

3. Bewusstheit als Fluch

Der Ich-Erzähler weiß um das Spiel – und gerade deshalb ist er verloren. Seine Reflexion macht ihn unfähig zur authentischen Teilnahme. Das „Schicksalsspiel“ wird damit zur paradoxen Metapher: Es ist ein Spiel, das gerade durch Bewusstsein zur Tragödie wird. „Da habe ich wohl keine Chance“, sagt er – nicht, weil das Spiel unfair wäre, sondern weil seine Fähigkeit zur Distanz ihn handlungsunfähig macht.

Diese Erfahrung erinnert an Camus’ Mythos des Sisyphos (1942), in dem das Bewusstsein der Absurdität die menschliche Existenz ins Leere kippen lässt. Doch anders als Camus bietet P.H. keine Form der Revolte oder des „trotzdem Ja-Sagens“ – seine Figur ist zynisch, ironisch, beinahe schon emotionslos resigniert: „Ich spiele das Spiel. Das Schicksalsspiel. Ausgerechnet ich. Was für eine Ironie.“

 

4. Die Ironie der Erkenntnis

In der ironischen Schlussformel kulminiert der Text: „Ausgerechnet ich.“ Was zunächst wie eine lässige Floskel klingt, verweist auf das zentrale Paradox: Wer das Spiel durchschaut, kann es nicht mehr mitspielen – und gerade dadurch wird er zur tragischen Figur. Diese Form der Ironie erinnert an Friedrich Nietzsches fröhliche Wissenschaft, in der der „letzte Mensch“ keine Tiefe mehr spürt – und der „Übermensch“ an seiner Tiefe fast zerbricht.

Die Ironie ist bei P.H. kein rhetorisches Mittel, sondern eine Überlebensstrategie – ein Schutz gegen das überwältigende Wissen um die Auswegslosigkeit. Denn selbst wenn man erkennt, dass alles ein Spiel ist, hat man keine Möglichkeit, sich zu entziehen. Der Preis der Erkenntnis ist die Unfähigkeit zur Teilhabe.

 

5. Ablenkung als letzte Rettung – oder Kapitulation

Zwischen den philosophischen Reflexionen taucht immer wieder das Bedürfnis nach Ablenkung auf: „Etwas Angenehmes. Eine Ablenkung wird gebraucht.“ Doch auch diese Strategie ist bei P.H. schon entlarvt. Ablenkung ist nicht Rettung, sondern Selbstbetrug. Die Figur weiß, dass sie sich gern ablenken lässt – „leider überhaupt nicht.“ Das ist eine bittere Pointe: Selbst der Eskapismus funktioniert nicht mehr.

In einer durch und durch reflektierten Existenz bleibt nichts als der ironische Blick auf das eigene Scheitern. Auch das ist ein Motiv, das sich bei Thomas Ligotti oder David Foster Wallace findet: Die totale Bewusstheit führt zu einem Zustand, in dem sogar die Fluchtstrategien versagen.

 

Fazit: Die Tragödie des Erwachten

P.H.s „Schicksalsspiel“ ist ein meisterhaft verdichteter Text über die Tragik moderner Subjektivität. In einem einzigen inneren Monolog entfaltet sich eine ganze existenzielle Landschaft: Freiheit als Illusion, Bewusstheit als Fluch, Ablenkung als untaugliche Rettung. Wer das Spiel des Lebens als Spiel erkennt, verliert – oder lebt zumindest mit einer ironischen Distanz, die keine echte Teilnahme mehr erlaubt.

Der Text erinnert uns daran, dass das größte Drama nicht das Leiden ist, sondern die Erkenntnis – und dass die, die unbewusst weitermachen, vielleicht nicht „besser“, aber auf eine merkwürdige Weise „unschlagbar“ sind. P.H. entwirft ein düsteres, fast nihilistisches Bild – aber mit einem trockenen Humor, der alles ein bisschen erträglicher macht.

 

Literaturverweise:

  • Albert Camus: Der Mythos des Sisyphos

  • Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts

  • Søren Kierkegaard: Entweder – Oder

  • Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft

  • Slavoj Žižek: The Sublime Object of Ideology

  • David Foster Wallace: This Is Water

  • Thomas Ligotti: The Conspiracy Against the Human Race