Weniger ein Vortrag über einen Skandal als ein Skandal über das Vortragen. Er hinterfragt die Möglichkeit, Skandalöses zu erzeugen, durchdenkt verschiedene Modelle (sprachlich, emergent, ontologisch) – und landet schließlich bei einer paradoxen Pointe: Der Skandal liegt nicht im Inhalt, sondern in der Struktur des Denkens selbst.
Sehr geehrte Zuhörer!
Dieser Vortrag ist ein Skandal! Das ist eine Tatsache. Daran gibt es nicht den geringsten Zweifel. Und wer sich doch nicht zu einhundert Prozent sicher sein sollte, der braucht sich nur an den ersten Satz dieses Vortrags zu erinnern. Na bitte! Ein Skandal eben. Nun, da der Charakter des Vortrags festgelegt wurde, wäre es ganz gut, wenn einige Sätze folgen würden, die diesen Charakter ein wenig unterstreichen. Das bedeutet, ein paar skandalöse Sätze müssen her. Nur, was ist ein skandalöser Satz? Wenn uns nichts dazu einfällt, ist möglicherweise der ganze Ansatz nicht richtig. Was wäre, wenn ein skandalöser Vortrag überhaupt nicht aus skandalösen Sätzen besteht? Bestehen denn die skandalösen Sätze aus skandalösen Wörtern und diese wiederum aus skandalösen Buchstaben? Mir sind jedenfalls keine skandalösen Buchstaben bekannt. Das muss nichts heißen. Wer sagt denn, dass uns nicht bestimmte Buchstaben, beispielsweise die skandalösen, vorenthalten wurden? Ganz sicher zu unserem Schutz. Um niemanden zu beunruhigen. Und möglicherweise führte das irgendwann dazu, dass man die skandalösen Buchstaben einfach vergessen hat. Man soll ja nichts von vornherein ausschließen. Und vielleicht gab es ja auch einmal noch ganz andere Arten von Buchstaben. Vielleicht die verrückten, oder auch die freundlichen? Doch das ist nun wirklich pure Spekulation. Andererseits war die Zahl Sechsundzwanzig noch nie wirklich ein Sympathieträger. Ich meine, Zwei mal Dreizehn? Geht’s noch? Die Dreizehn als Unglückszahl und das gleich in der doppelten Dosis? Sehr, sehr beunruhigend. Egal, irgendwie hat man sich arrangiert und daran gewöhnt. Doch bleibt ein ungutes Gefühl. Und das könnte möglicherweise ein Indikator dafür sein, dass es irgendwann einmal tatsächlich mehr als sechsundzwanzig Buchstaben waren. Das alles natürlich nur unter der Voraussetzung, dass ein skandalöser Vortrag letztendlich aus skandalösen Buchstaben bestehen muss. Ich denke, diese Option ist sicher nicht die einzige, doch ist sie nicht von der Hand zu weisen. Denn wenn es nicht so wäre, d.h., wenn der skandalöse Vortrag nicht aus skandalösen Buchstaben bestehen würde, dann müsste die Skandalität des Vortrags ja auf irgendeine andere Art und Weise zustande gekommen sein. Wie soll das gehen? Indem man eine bestimmte Menge ganz bestimmter Buchstaben nimmt, diese auf eine ganz bestimmte Art zusammenfügt, und plötzlich ist er da, der skandalöse Vortrag? Das klingt doch recht unglaubwürdig. So als würde die Skandalität des Vortrags plötzlich aus der gewählten Buchstabenkombination emergieren. Das hat direkt etwas magisch Mystisches. Fehlen nur noch Zauberstab, Zauberspruch und der Vollmond. Andererseits ist die Emergenz doch ein wissenschaftlich anerkanntes Konzept. Da bin ich mir aber nicht absolut sicher. Irgendwie habe ich aber auch gar keine Lust nachzuschauen, was es mit der Emergenz im Detail auf sich hat. Klingen tut sie auf jeden Fall gut. Und wie hilft uns das dabei, einen skandalösen Vortrag zu erzeugen? Einen Vorteil haben wir. Wir wissen, wo wir hinwollen. Das Ziel ist bekannt. Sein Name ist Skandalität. Und zwar als eine Eigenschaft des zu erzeugenden Vortrags. Nun bin ich doch etwas verunsichert. Ist es üblich, dass bei der Emergenz immer schon bekannt ist, wo die Reise hingeht? Vielleicht brauchen wir doch etwas anderes? Obwohl, wenn das Ziel schon bekannt ist, müsste es für die Emergenz doch viel leichter sein. Das sollte eine ganze Reihe von Fehlversuchen unnötig machen. Und wir sollten schon einigermaßen schnell zum Ziel kommen. Schließlich stehen die nachfolgenden Vorträge schon in den Startlöchern. Ich habe auch schon eine Idee, wie wir die Sache beschleunigen können. Wir lassen einfach mehrere Sachen parallel laufen! Das erhöht auf jeden Fall die Chancen. Es sei denn, die würden alle exakt das Gleiche tun. Das wäre schon irgendwie blöd. Kann man eigentlich die Geschwindigkeit des Emergierens beeinflussen? Ich sehe schon, am Ende halten wir uns mit Verfahrensfragen auf und verlieren das Ziel vollkommen aus den Augen. Und die Sache mit der Emergenz war ja auch nur eine Option. Wie immer, oder zumindest oft, gibt es noch eine dritte Möglichkeit. Und das Dritte wollen wir keinesfalls ausschließen. Diese dritte Option ist etwas radikal, und weil wir niemanden vor den Kopf stoßen wollen, müssen wir an dieser Stelle die Warnung aussprechen, dass die dritte Option vermutlich nur für robustere Gemüter verträglich ist. Wer weiter zuhört, tut das auf eigene Verantwortung. Darauf sei hier nachdrücklich hingewiesen. Doch nun zum Kern der dritten Option. Und deren Aussage ist, dass Skandalität überhaupt keine Eigenschaft eines Vortrags ist, und es auch niemals sein kann! Ist das nicht unglaublich! Ich denke, diese dritte Option ist der eigentliche Skandal. Und wenn das tatsächlich so ist, dann ist es uns glücklicherweise doch noch gelungen, einen skandalösen Vortrag zu halten. Und das nur deswegen, weil es überhaupt nicht möglich ist! Mit diesem kleinen Teufelskreis wollen wir an dieser Stelle den Vortrag beenden und freuen uns auf viele weitere Vorträge. Eine gute Nacht!
Analyse
Einleitung
Der Text „Skandalität“ ist kein gewöhnlicher Vortrag. Er ist, wie sein Autor direkt zu Beginn behauptet, „ein Skandal“. Doch statt auf moralische Empörung, Enthüllungen oder Tabubrüche zu setzen, dekonstruiert der Text das Skandalöse selbst – sprachlich, strukturell, philosophisch. Dabei entwickelt sich der Vortrag zu einer ironischen Meditation über die Emergenz von Bedeutung, die Grenzen der Sprache und die Frage nach der Zuschreibbarkeit von Eigenschaften. Der Skandal liegt nicht im Inhalt, sondern in der Unmöglichkeit, ihn zu fassen.
Im Zentrum steht ein paradoxes Spiel: Der Vortrag behauptet skandalös zu sein – und erzeugt seine Skandalität genau dadurch, dass er zeigt, wie wenig sich Skandalität fassen, erzeugen oder bestimmen lässt.
1. Der performative Auftakt – „Dieser Vortrag ist ein Skandal!“
Der Text beginnt mit einer selbstreferenziellen Setzung: „Dieser Vortrag ist ein Skandal!“ Die Pointe ist klar: Der Skandal ist nicht Ergebnis, sondern Voraussetzung. Damit ist das zentrale rhetorische Mittel des Textes benannt – die Selbstbehauptung als performativer Akt.
Hier schließt der Text an John L. Austin an, dessen Theorie der Sprechakte (vgl. How to Do Things with Words) zeigt, dass Sätze nicht nur etwas beschreiben, sondern auch etwas tun können. Die Aussage „Dieser Vortrag ist ein Skandal“ ist eine performative Setzung: Sie soll Realität erzeugen, nicht bloß abbilden.
Doch diese Setzung gerät sofort ins Wanken, als der Text fragt, woraus sich Skandalität eigentlich zusammensetzt – aus skandalösen Sätzen? Wörtern? Buchstaben?
2. Skandalöse Buchstaben – eine sprachphilosophische Satire
Die Idee, dass ein skandalöser Vortrag aus skandalösen Buchstaben bestehen müsste, ist absichtlich absurd – und führt zu einer satirischen Überdehnung sprachphilosophischer Fragen. Denn was bedeutet es, wenn Begriffe wie „Skandal“ durch Sprache transportiert werden? Wo liegt die Grenze zwischen Bedeutung und Materialität?
Die spielerische Überlegung, dass uns „skandalöse Buchstaben“ vielleicht vorenthalten wurden, verweist auf eine meta-linguistische Unsicherheit: Wenn unsere Zeichenwelt begrenzt ist, wie können wir dann sicher sein, dass bestimmte Bedeutungen nicht systematisch ausgeschlossen sind? Hier schwingt ein motivischer Nachhall von Jacques Derridas Différance mit: Bedeutung entsteht durch Differenz, und nie durch unmittelbare Präsenz.
Die ironisch gestellte Frage nach den „freundlichen“ oder „verrückten“ Buchstaben ist eine spielerische Kritik an semiotischem Essenzialismus – dem Glauben, dass bestimmte Zeichen an sich bedeutungstragend sind. Der Vortrag entlarvt dies als magisches Denken.
3. Emergenz und das Missverständnis des Designs
In der Mitte des Textes wendet sich der Autor einem anderen Modell der Skandalproduktion zu: der Emergenz. Hier wird ein vertrauter Begriff aus der Systemtheorie und Philosophie aufgegriffen – gemeint ist das Entstehen neuer Eigenschaften aus der Wechselwirkung einfacherer Elemente, ohne dass diese Eigenschaften in den Teilen bereits angelegt sind.
Der Gedanke, dass ein Vortrag durch die Kombination „ganz bestimmter Buchstaben“ emergent skandalös wird, wirkt fast wie eine Parodie auf konstruktivistische Denkmodelle. Dabei wird Emergenz als magisch-mystisch karikiert – eine Art Zauber, der durch die richtige Kombination ausgelöst wird.
Die ironische Frage, ob man den „Vorgang des Emergierens“ beschleunigen könne, kritisiert Vorstellungen, die Emergenz mit planbarem Design verwechseln. Tatsächlich steht dieser Gedanke im Kontrast zur philosophischen Tradition (z. B. bei Aristoteles, Whitehead, oder in der Komplexitätstheorie), die Emergenz als nicht vollständig kontrollierbar begreift.
4. Die dritte Möglichkeit – der eigentliche Skandal
Der Höhepunkt des Vortrags ist die sogenannte „dritte Möglichkeit“ – und mit ihr die eigentliche Pointe: Skandalität ist gar keine Eigenschaft eines Vortrags. Vielmehr ist die Idee, ein Vortrag könne an sich skandalös sein, ein Kategorienstreit. Damit wird das gesamte Vorhaben, einen skandalösen Vortrag zu halten, ad absurdum geführt – und gerettet gerade durch dieses Scheitern.
Diese Figur erinnert an ein klassisches philosophisches Paradox: Der Vortrag ist skandalös, weil er beweist, dass Skandalität unmöglich ist. Damit wird Skandalität zu einer logischen Schleife – ähnlich der Lügnerparadoxie oder dem berühmten Satz von Epimenides: „Alle Kreter lügen.“
In dieser Wendung liegt ein deutlicher Bezug zu Kurt Gödel oder auch Douglas Hofstadters Konzept der „strangen loops“ (Gödel, Escher, Bach): Systeme, die sich selbst zum Gegenstand machen, geraten in logische Paradoxien – und genau dadurch entsteht neue Bedeutung.
5. Der Skandal als Form, nicht als Inhalt
Am Ende entlarvt der Text die Skandalität nicht als moralisches oder gesellschaftliches Moment, sondern als formales Spiel. Der Skandal liegt in der Struktur – in der Unmöglichkeit, ihn eindeutig zu benennen. Damit rückt der Text in die Nähe poststrukturalistischer Denker, besonders Jean-François Lyotard, der in der Différend betont, dass es Situationen gibt, in denen kein gemeinsamer Maßstab zur Verfügung steht, um über Bedeutung zu entscheiden.
Das skandalöse Moment liegt somit in der Unverrechenbarkeit des Ereignisses. Der Vortrag verweigert sich jeder finalen Aussage, jeder klaren Eigenschaft – und genau darin liegt seine philosophische Pointe.
Fazit: Der Skandal als Denkform
Der Text „Skandalität“ ist weniger ein Vortrag über einen Skandal als ein Skandal über das Vortragen. Er hinterfragt die Möglichkeit, Skandalöses zu erzeugen, durchdenkt verschiedene Modelle (sprachlich, emergent, ontologisch) – und landet schließlich bei einer paradoxen Pointe: Der Skandal liegt nicht im Inhalt, sondern in der Struktur des Denkens selbst.
Er demonstriert, wie philosophisches Denken durch Ironie, Selbstreferenz und systematische Verunsicherung produktiv werden kann. Die Skandalität besteht also nicht im Bruch mit Normen, sondern im Bruch mit der Erwartung, dass ein Bruch sichtbar sein muss.
Verweise und theoretischer Kontext
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John L. Austin: How to Do Things with Words – Performative Sprechakte
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Jacques Derrida: Différance – zur Instabilität sprachlicher Bedeutung
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Douglas Hofstadter: Gödel, Escher, Bach – zur Idee selbstreferenzieller Schleifen
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Jean-François Lyotard: Der Widerstreit (Le différend) – Unentscheidbarkeit und Strukturkritik
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Emergenz: siehe u. a. Mario Bunge, David Chalmers, G. H. Lewes