Ich, Du und die kommunizierenden Individuen

Der Dialog ist ein bemerkenswertes philosophisches Miniaturstück. Mit lakonischem Witz und hoher formaler Präzision demontiert er zentrale Annahmen über das Ich, Autorschaft und sprachliche Produktion. Was bleibt, ist ein dynamisches Bild: Das Ich als Produkt kommunikativer Prozesse, das stets im Werden ist, nie abgeschlossen, nie selbst-evident.

Was ist Ihre Aufgabe?

 

Meine Aufgabe ist der Text.

 

Sie erzeugen den Text?

 

Es hat den Anschein.

 

Nur den Anschein?

 

Exakt. Nur den Anschein.

 

Sie erzeugen also keinen Text?

 

Richtig.

 

Aber Sie schreiben doch Texte?

 

Sind Sie sicher?

 

Ich war dabei.

 

Wobei?

 

Ich war dabei, als Sie einen Text schrieben.

 

Sind Sie sicher?

 

Völlig sicher.

 

Das ist nicht möglich.

 

Bin ich verrückt geworden?

 

Keineswegs. Ich denke, dass Sie bei klarem Verstand sind.

 

Und doch behaupten Sie, dass Sie keine Texte schreiben würden, obwohl ich schon dabei war?

 

Ausgezeichnet zusammengefasst. Wahrscheinlich denken Sie jetzt, dass ich verrückt bin?

 

Niemals.

 

Geben Sie es ruhig zu. Für Sie ist meine Aussage widersprüchlich.

 

In der Tat.

 

Doch für mich ist sie das nicht.

 

Wie kann das sein?

 

Ganz einfach. Sie sehen mein Ich als eine Art Ding an. Ich tue das nicht.

 

Aha?

 

Das Ich ist nicht das Ganze. Mein Ich ist nur gemacht. Wie meine Texte. Das ist schon alles.

 

Und wer macht Ich und Texte?

 

Das Individuum, mit dem das Individuum, das Ihr Ich produziert, gerade kommuniziert.

 

Das Individuum macht die Texte? Und auch das Ich?

 

Jetzt sind wir uns einig.

Analyse

Der Dialog „Ich, Du und die kommunizierenden Individuen“ ist ein dichtes und zugleich verspieltes Gedankenexperiment über Identität, Kommunikation und Autorschaft. Was wie eine paradoxe Unterhaltung beginnt, entfaltet sich als tiefgreifende Auseinandersetzung mit der Frage: Wer spricht, wenn gesprochen wird? Und wer ist das Ich, das sich in der Sprache behauptet?

Der Text entzieht sich dabei bewusst jeder simplen Auflösung und erinnert an die sprachphilosophischen Überlegungen von Lacan, Derrida und Paul Valéry, der einst sagte: „Ein Gedanke beginnt erst dann zu existieren, wenn man ihn ausspricht.“

 

1. Die Illusion des Autors: „Meine Aufgabe ist der Text.“

Gleich zu Beginn wird der Fokus auf den Text als Produkt und Aufgabe gelegt – nicht auf den Autor oder Sender. Die Antwort auf die Frage „Was ist Ihre Aufgabe?“ verweist auf eine Funktion, nicht auf ein Subjekt. Dies erinnert stark an Roland Barthes’ berühmte These vom „Tod des Autors“ (1967), in der der Autor als Ursprung der Bedeutung dekonstruiert wird. Der Text existiert nicht als Ausdruck eines inneren Ichs, sondern entsteht in der Begegnung zwischen Text und Leser.

Diese Denkweise kehrt sich im Dialog gegen das intuitive Verständnis von Kommunikation: Der Sprecher „erzeugt“ den Text nicht, sondern es hat nur den Anschein. Damit ist der Sprecher selbst nur ein Effekt, eine Rolle im sprachlichen Spiel.

 

2. Die Krise des Ichs: „Das Ich ist nicht das Ganze. Mein Ich ist nur gemacht.“

Zentrale Pointe des Dialogs ist die Verflüssigung des Ichs. Der Sprecher lehnt es ab, sich als stabile Einheit zu begreifen, vielmehr wird das Ich als ein Produkt beschrieben – gemacht, wie die Texte. Diese Denkweise steht in enger Nähe zur poststrukturalistischen Subjektkritik, wie sie etwa Jacques Lacan oder Michel Foucault formulierten. Besonders Lacans Vorstellung vom „Ich“ als méconnaissance (Verkennung) ist einschlägig: Das Ich ist eine imaginäre Konstruktion, entstanden durch symbolische Prozesse der Sprache und des Begehrens.

In dieser Perspektive ist das Ich nicht der Ursprung der Rede, sondern Effekt eines kommunikativen Prozesses, wie im Dialog deutlich wird:

„Das Individuum, mit dem das Individuum, das Ihr Ich produziert, gerade kommuniziert.“

Ein komplex verschachtelter Satz, der aber darauf hinausläuft: Das Ich entsteht im Du. Die Kommunikation – das Verhältnis – konstituiert das Subjekt. Das ist die Grundidee dialogischer Philosophie, etwa bei Martin Buber (Ich und Du) oder Emmanuel Levinas: Das Subjekt entsteht erst im Angesicht des Anderen.

 

3. Ontologische Spielerei: Realität durch Sprache

Der Dialog spielt mit der Grenze zwischen Sein und Schein: Der Sprecher widerspricht der Zuschreibung, Texte zu schreiben, obwohl die Interaktionspartnerin Zeugin war. Der scheinbare Widerspruch ist jedoch produktiv. Die Unterscheidung von Tun und Erscheinung, Autorschaft und Produktion, verweist auf eine differenzierte Ontologie, wie sie etwa Heidegger entwickelt: „Das Wesen der Wahrheit ist die Freiheit.“ – Wahrheit ist keine bloße Feststellung, sondern ein Geschehen.

Der Sprecher zeigt, dass der Anschein selbst eine Wirklichkeit ist – aber nicht notwendigerweise mit dem Subjekt identisch. Das Ich, das spricht, ist nur eine Position im Text, nicht dessen Ursprung.

 

4. Die Konstruktion des Individuums

Die Aussage „Das Individuum macht die Texte. Und auch das Ich.“ verweist auf eine Metaebene der Subjektivität. Es ist nicht das Ich, das spricht, sondern ein Individuum, das auch das jeweilige Ich „macht“. Diese Perspektive rührt an den Begriff der Performativität (vgl. Judith Butler), wonach das Subjekt erst durch seine Handlungen und sprachlichen Akte entsteht.

Im Dialog tritt das Ich als Resultat einer Beziehung auf – nicht als deren Voraussetzung. Das korrespondiert mit der Sprachauffassung Luhmanns in seiner Systemtheorie, in der Kommunikation nicht von Individuen ausgeht, sondern als eigenständiges System fungiert, in dem sich Individuen rekursiv erzeugen.

 

Fazit: Kommunikation als Geburtsort des Ichs

Der Dialog „Ich, Du und die kommunizierenden Individuen“ ist ein bemerkenswertes philosophisches Miniaturstück. Mit lakonischem Witz und hoher formaler Präzision demontiert er zentrale Annahmen über das Ich, Autorschaft und sprachliche Produktion. Was bleibt, ist ein dynamisches Bild: Das Ich als Produkt kommunikativer Prozesse, das stets im Werden ist, nie abgeschlossen, nie selbst-evident.

In der Begegnung von Ich und Du entsteht der Text – und in diesem Text konstituieren sich die Subjekte. Die Frage, wer spricht, führt nicht zur Person, sondern zu einer Relation, in der wir selbst nur Momente sind – flüchtig, wechselwirkend, gemacht.

 

Weiterführende philosophische Kontexte:

  • Roland BarthesDer Tod des Autors

  • Jacques LacanDas Spiegelstadium

  • Judith ButlerGender Trouble (Performativität)

  • Michel FoucaultWas ist ein Autor?

  • Martin BuberIch und Du

  • Niklas LuhmannSoziale Systeme