Eine kluge, ironisch gebrochene Reflexion über das Verhältnis von Denken, Wahrnehmung und Welt. Er zeigt, dass alle Erkenntnis in abstrakten Konstrukten verankert ist, die zwar präzise sein können, aber nie das „Unpräzise“ oder das „Reale an sich“ vollständig einholen. Das Nervensystem wird dabei als produktiv-symbolischer Apparat verstanden, der Welt erschafft, nicht abbildet.
Nochmal zurück zu den abstrakten Konstrukten...
Zurück? Wieso zurück? Wir waren doch nie weg von denen.
Sind die präzise?
Manche ja, andere eher nicht. Obwohl, selbst die nicht präzisen sind genau genommen auch präzise, denn wenn die abstrakten Konstrukte eher als Zeiger auf etwas verwendet werden, dann sind sie wohl auch präzise, nur dass vielleicht das, worauf gezeigt wird, nicht präzise ist, und möglicherweise auch nicht sein kann, da keine Vorstellung davon existiert, im Sinne von sinnlich Wahrgenommenem, wenn du weißt, was ich meine.
Also sind die abstrakten Konstrukte immer präzise?
Denke schon. Ich wüsste auch nicht, wie man unpräzise Ergebnisse erzeugt. So auch im Nervensystem. Im einfachsten Fall haben die abstrakten Konstrukte selbst nur mit abstrakten Konstrukten zu tun.
Gut. Doch im anderen Fall, wenn die abstrakten Konstrukte direkt auf etwas Unpräzises verweisen, wie soll das eigentlich gehen? Da geht doch was verloren?
Mit 'verloren' meinst du, dass man vielleicht auch alles haben könnte? Lustig. Aber du sprichst von Wahrnehmung. Da erzeugt das Nervensystem mittels Aktivität, Sensorik und Vertiefung durch Wiederholung doch selbst seine abstrakten Konstrukte. Ich glaube, die nennt man auch Qualia, wenn ich mich nicht irre. Wobei Qualia als Begriff, demnach selbst ein abstraktes Konstrukt wäre, das eben auf etwas verweist. Von der Sprache und ihrer Symbolik will ich jetzt gar nicht anfangen. Wie du siehst, da kann man leicht durcheinanderkommen. Doch am Ende spielt das alles keine Rolle, da wir nichts anderes haben, als die abstrakten Konstrukte. Und, wie du schon festgestellt hast, alle abstrakten Konstrukte sind präzise. Man muss nur immer im Kopf behalten, dass die letztendlich alle entstanden sind aus ursprünglichen abstrakten Konstrukten, die das Nervensystem erzeugt hat, aufgrund des Widerstands, der ihm entgegensetzt wurde, bei dessen Aktivität in der Welt.
Eine nicht abstrakte, nicht präzise Welt werden wir demnach nie abstrakt und präzise beschreiben können.
Wüsste nicht wie das gehen sollte, wenn man sich das Nervensystem so ansieht. Du erkennst den kleinen Widerspruch? Für mich kann das Nervensystem als Konstrukt nur abstrakt sein. Egal, der Witz dabei ist, dass man ja ganz gut zurechtkommt, nur mit den abstrakten Konstrukten. Man könnte sogar fast meinen, dass diese die Welt so zeigen würden, wie sie ist. Eine Selbsttäuschung, die, wenn nur genug Leute daran glauben, ungeahnte Folgen haben kann. Man hat ja damit auch irgendwie die Wahrheit in seinem Besitz.
Aber Wahrheit gibt es schon?
Vielleicht innerhalb der abstrakten Konstrukte?
Und der eine hat solche Konstrukte und ein anderer eben andere.
Dumm gelaufen. Wenigstens sind die Nervensysteme gleich aufgebaut.
Wenigstens etwas, worauf man sich einigen kann.
Analyse
1. Einleitung: Eine philosophische Konversation über Denken und Wahrnehmung
Der Blogtext „Nervensache“ ist ein exemplarischer Vertreter der eigenwilligen, dialogisch-ironischen Philosophie des Proemial-Blogs. In Form eines lockeren Gesprächs – das eher Assoziationen an eine Kneipendiskussion zwischen Neurowissenschaftler und Sprachphilosoph weckt als an eine akademische Vorlesung – werden große Fragen gestellt: Was ist Realität? Was ist Wahrheit? Und wie viel davon ist bloße Konstruktion?
Der Text kreist um ein zentrales Thema: die Rolle abstrakter Konstrukte im Denken, im Nervensystem und in unserer Vorstellung von Welt. Dabei steht die These im Raum, dass alles, was wir erkennen und denken, letztlich aus diesen Konstrukten besteht – und dass diese, trotz ihrer Abstraktheit, präzise sind. Der Text fordert dazu heraus, unsere Vorstellungen von „Realität“ und „Wahrheit“ neu zu durchdenken.
2. Abstrakte Konstrukte: Präzision trotz Unanschaulichkeit
Gleich zu Beginn wird eine provokante Behauptung aufgestellt:
„Selbst die nicht präzisen [abstrakten Konstrukte] sind genau genommen auch präzise.“
Was zunächst paradox klingt, entfaltet bei näherer Betrachtung eine tiefe erkenntnistheoretische Einsicht: Abstrakte Konstrukte – seien es Begriffe, mathematische Modelle oder kognitive Repräsentationen – sind nicht vage per se, sondern formal eindeutig, auch wenn sie sich auf etwas beziehen, das unpräzise bleibt: etwa subjektive Erfahrung oder komplexe Phänomene wie Emotion, Bewusstsein oder Kunst.
Hier zeigt sich eine Nähe zu Immanuel Kant, der zwischen „Ding an sich“ und „Erscheinung“ unterscheidet. Die Welt, wie sie „an sich“ ist, bleibt uns unzugänglich. Alles, was wir erkennen, geschieht durch Kategorien und Anschauungsformen unseres Verstandes – eben durch abstrakte Konstrukte. Die Präzision dieser Konstrukte bezieht sich nicht auf ihren Realitätsgehalt, sondern auf ihre Rolle im System der Erkenntnis.
3. Das Nervensystem als Ursprung der Konstruktion
Der Text entwickelt nun eine originelle Verbindung zwischen Erkenntnistheorie und Neurobiologie:
„Alle abstrakten Konstrukte sind entstanden aus ursprünglichen abstrakten Konstrukten, die das Nervensystem erzeugt hat, aufgrund des Widerstands, der ihm entgegensetzt wurde, bei dessen Aktivität in der Welt.“
Diese Aussage erinnert stark an Konstruktivismus – insbesondere in der Variante von Heinz von Foerster oder Humberto Maturana und Francisco Varela (→ Autopoiesis). Das Nervensystem wird nicht als passiver Wahrnehmungsapparat verstanden, sondern als aktiver Erzeuger von Weltbildern. Was wir sehen, hören oder verstehen, ist nicht die Welt „da draußen“, sondern ein produktives Ergebnis neuronaler Prozesse, die durch Interaktion mit der Umwelt strukturiert sind.
Dabei wird auch das Phänomen der Qualia angesprochen – jener subjektiven Erlebniselemente wie der Geschmack von Erdbeeren oder das Rot eines Sonnenuntergangs. Diese sind, so der Text, Ergebnisse abstrakter neuronaler Konstruktionen, die zwar unmittelbar erscheinen, aber in ihrer Begriffsbildung selbst wieder abstrakt sind. Der Begriff „Qualia“ wird somit ebenfalls als Meta-Konstrukt entlarvt.
4. Die Unmöglichkeit, das Unpräzise präzise zu beschreiben
Ein zentraler Gedanke des Textes bringt diese Erkenntnisse auf den Punkt:
„Eine nicht abstrakte, nicht präzise Welt werden wir demnach nie abstrakt und präzise beschreiben können.“
Diese Aussage stellt eine Grenze des Erkennens fest, wie sie auch in der Philosophie Ludwig Wittgensteins, insbesondere in seinem Tractatus logico-philosophicus, formuliert wird:
„Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“ (Tractatus, Satz 7)
Das bedeutet jedoch nicht, dass die Welt unzugänglich ist, sondern dass unser Zugang stets symbolisch vermittelt ist – durch Sprache, Zeichen, neuronale Aktivitätsmuster. Diese Vermittlung ist zugleich unsere einzige Möglichkeit, über Wirklichkeit zu sprechen, und ihr größtes Hindernis, die „Wirklichkeit an sich“ zu erfassen.
5. Wahrheit als lokale Konstruktion
Am Ende wird die Frage nach der Wahrheit gestellt – und erneut in Frageform beantwortet:
„Aber Wahrheit gibt es schon?“
Vielleicht innerhalb der abstrakten Konstrukte?“
Wahrheit wird hier nicht als transzendente Übereinstimmung mit der Realität verstanden, sondern als systeminterne Kohärenz: innerhalb eines Systems von Konstrukten kann es konsistente, präzise Aussagen geben – aber diese gelten nicht absolut, sondern relativ zu diesem System. Auch hier zeigt sich die Nähe zum systemtheoretischen Konstruktivismus (Luhmann), aber auch zu postmodernen Perspektiven wie bei Lyotard, der von einer „Krise der großen Erzählungen“ spricht.
Der Text endet mit einer fast versöhnlichen Pointe:
„Wenigstens sind die Nervensysteme gleich aufgebaut.“
Diese Feststellung ist eine Art minimaler ontologischer Trost: Wenn schon nicht unsere Begriffe gleich sind, dann doch wenigstens unsere biologischen Grundlagen – eine Basis für Kommunikation, Konsens und Koexistenz, trotz der Differenz unserer Konstrukte.
6. Fazit: Philosophieren in der Konstruktion – und darüber hinaus
Der Text „Nervensache“ ist eine kluge, ironisch gebrochene Reflexion über das Verhältnis von Denken, Wahrnehmung und Welt. Er zeigt, dass alle Erkenntnis in abstrakten Konstrukten verankert ist, die zwar präzise sein können, aber nie das „Unpräzise“ oder das „Reale an sich“ vollständig einholen. Das Nervensystem wird dabei als produktiv-symbolischer Apparat verstanden, der Welt erschafft, nicht abbildet.
Das führt nicht zur Verzweiflung, sondern zu einer philosophischen Gelassenheit: Wenn wir anerkennen, dass wir nur Konstrukte haben, dann können wir diese auch bewusster gestalten, erweitern, reflektieren – und vielleicht sogar gemeinsam verbessern.
Philosophische Bezüge und weiterführende Lektüre:
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Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft – Kategorien und Anschauungsformen
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Heinz von Foerster: Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners – radikaler Konstruktivismus
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Humberto Maturana / Francisco Varela: Der Baum der Erkenntnis – Autopoiesis und Nervensystem
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Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus – Sprachgrenzen als Denkgrenzen
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Niklas Luhmann: Soziale Systeme – Wahrheit als Systemreferenz
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Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen – Wissen als lokal, fragmentiert, funktional