Davor und danach

Der Text, erschienen im Kontext von P.H.s Werk Lil’ Bastard, ist ein dichter, aphoristischer Monolog, der gleichermaßen resignativ wie lakonisch auf eine zerplatzte Utopie zurückblickt. In scheinbar beiläufigen Gedanken verdichtet sich eine philosophische Reflexion über das Verhältnis von Idealismus und Realität, Gesetz und Gerechtigkeit, Individuum und Gesellschaft.

Tue einfach, was du tun musst. Oder sollst. Oder was auch immer. Das tue ich doch sowieso. Ich tue immer, was ich soll oder will. Wer weiß das schon genau. Die Gesetze sind dafür gemacht, dass die wirklich bösen Buben ungeschoren davonkommen können. Das war eine Illusion. Zugegeben, eine schöne Illusion. Wundervoll. Utopia in einer Blase. Jetzt ist die Blase zerplatzt. Und die Utopianer haben Angst. Verständlich. Nun sind sie nur noch eine mehr oder weniger willkommene Mahlzeit auf dem Teller eines Barbaren. Das Ende der schönen neuen Welt. Und dabei sollte sie ewig dauern. Und irgendwann sollten alle dazugehören. Hat nicht funktioniert. Vielleicht nur ein Missverständnis? Keiner versteht diejenigen, die nur das Beste für alle wollen. Zu schade. Zeit, sich mit der Wirklichkeit anzufreunden. Wenn sich keiner um die bösen Buben kümmern will, so musst du es nicht selbst tun. Es findet sich immer jemand. Für alles hat sich immer jemand gefunden. Noch nie ist irgendein Job unerledigt geblieben. Mit diesen und anderen Gedanken vertrieb sich der kleine Bastard üblicherweise die Wartezeit. Er achtete auf seine Atmung, seine Schritte. Faszinierend. Es ergab alles einen Sinn. Er lächelte. In einer Stunde würde er im „Kniefall“ an einem schmutzigen Tisch sitzen und seine Systeme vor die eine oder andere Herausforderung stellen.

 

(Aus: P.H.‘s „Lil‘ Bastard“, Klangwelt Magazin, 1982)

Analyse

Der Text „Davor und Danach“, erschienen im Kontext von P.H.s Werk Lil’ Bastard, ist ein dichter, aphoristischer Monolog, der gleichermaßen resignativ wie lakonisch auf eine zerplatzte Utopie zurückblickt. In scheinbar beiläufigen Gedanken verdichtet sich eine philosophische Reflexion über das Verhältnis von Idealismus und Realität, Gesetz und Gerechtigkeit, Individuum und Gesellschaft. Die Figur des „kleinen Bastards“ dient dabei als ironisch gebrochener Träger dieser Reflexionen – zwischen Zynismus, Selbsterkenntnis und stiller Klarheit.

 

1. Gesetze, Gerechtigkeit und Illusion

Der Text beginnt mit einer paradoxen Behauptung: „Tue einfach, was du tun musst. Oder sollst. Oder was auch immer.“ Bereits in dieser Ambivalenz zeigt sich die zentrale Haltung des Protagonisten: Pflichten und Wünsche, äußere Normen und innere Impulse verschwimmen in einem Nebel aus Gleichgültigkeit oder Überdruss. Die folgende Aussage, „Ich tue immer, was ich soll oder will“, unterstreicht diese Unschärfe weiter und erinnert an Nietzsche, der in der Genealogie der Moral auf die Widersprüchlichkeit moralischer Verpflichtungen verweist: Woher wissen wir überhaupt, was „sollen“ heißt?

Die darauf folgende Feststellung über das Rechtssystem – „Die Gesetze sind dafür gemacht, dass die wirklich bösen Buben ungeschoren davonkommen können“ – entlarvt die Gerechtigkeit als Fassade. Der Text dekonstruiert den Glauben an ein gerechtes System als „Illusion“. Diese Kritik lässt sich mit Hannah Arendts Überlegungen zur Banalität des Bösen (Eichmann in Jerusalem) in Verbindung bringen: Das System schützt sich selbst, nicht unbedingt die Menschen.

 

2. Der Verlust der Utopie

Zentral ist das Bild einer zerplatzten Utopie: „Utopia in einer Blase. Jetzt ist die Blase zerplatzt.“ Die „Utopianer“ – Träger eines Idealbildes der Zukunft – sind nach dem Zusammenbruch ihrer Vision zu „einer mehr oder weniger willkommene[n] Mahlzeit auf dem Teller eines Barbaren“ geworden. Diese metaphorische Wendung bringt eine tiefe Enttäuschung zum Ausdruck: Die Idealisten sind nicht nur gescheitert, sie sind zur Beute geworden. Dies erinnert an die Dialektik der Aufklärung bei Horkheimer und Adorno, die beschreiben, wie aus dem Streben nach Vernunft oft Unmenschlichkeit wird.

Der Traum einer „schönen neuen Welt“, einer kollektiven, egalitären Gesellschaft, hat sich nicht erfüllt. Die Phrase „Und irgendwann sollten alle dazugehören“ verweist auf einen universalen Anspruch, der jedoch in die Realität einer fragmentierten, gewaltvollen Welt überführt wird. Die Aussage „Hat nicht funktioniert. Vielleicht nur ein Missverständnis?“ lässt ironisch offen, ob die Utopie jemals realistisch war – oder ob sie von Anfang an auf Illusionen beruhte.

 

3. Existenzphilosophische Wendung: Wirklichkeit und Verantwortung

Die resignative Akzeptanz der Realität zeigt sich in der Aussage: „Zeit, sich mit der Wirklichkeit anzufreunden.“ Damit rückt der Text in den Bereich existenzphilosophischer Einsicht – eine Anlehnung etwa an Camus' Mythos des Sisyphos, in dem der Mensch lernt, die Absurdität des Lebens anzunehmen, ohne sich Illusionen hinzugeben. Doch anders als bei Camus' heroischem Trotz bleibt die Haltung des Protagonisten passiv: „Wenn sich keiner um die bösen Buben kümmern will, so musst du es nicht selbst tun.“

Hier wird Verantwortung delegiert, ja fast negiert – „Es findet sich immer jemand“ –, was auf ein tiefes Misstrauen gegenüber Engagement oder Moral schließen lässt. Dennoch liegt auch darin eine Art Gelassenheit, ein pragmatischer Fatalismus.

 

4. Der kleine Bastard: Meditation und Sinn

Am Ende des Textes wird der Protagonist plötzlich konkret. Er – der „kleine Bastard“ – tritt aus der abstrakten Reflexion in eine fast meditative Haltung: „Er achtete auf seine Atmung, seine Schritte.“ Inmitten der Trümmer seiner Weltwahrnehmung findet er Trost in der Aufmerksamkeit für den Moment. Diese Wendung ist vielleicht die überraschendste: Sie verweist auf eine existentielle Selbstverankerung, die auch in östlichen Philosophieformen wie dem Zen-Buddhismus zu finden ist.

Sein Lächeln – „Es ergab alles einen Sinn“ – wirkt nicht euphorisch, sondern eher ruhig, beinahe stoisch. Und doch ist da eine Hoffnung auf Struktur im Chaos, Sinn in der Bewegung. Dass er bald im „Kniefall“ an einem „schmutzigen Tisch“ sitzen wird, ist möglicherweise eine Metapher für Unterwerfung, aber auch für Demut vor der Wirklichkeit – und die Bereitschaft, sich ihr zu stellen.

 

Fazit

„Davor und Danach“ ist ein vielschichtiger, dichter Text über die Desillusionierung des modernen Menschen. Er beschreibt den Weg von der Utopie zur Akzeptanz des Banalen, vom kollektiven Traum zur individuellen Selbstverantwortung – oder gar deren Ablehnung. Der „kleine Bastard“ steht dabei nicht nur für eine Figur, sondern für eine Haltung: ironisch, ernüchtert, aber nicht ohne Tiefe.

In einer Zeit, in der viele gesellschaftliche Visionen brüchig erscheinen, bietet dieser Text keine einfachen Antworten – aber vielleicht ein ehrliches Porträt einer inneren Haltung, die zwischen Weltflucht und Weltakzeptanz balanciert.