Voraussetzungen

Der Vortrag ist letztlich ein Aufruf zum nicht-dogmatischen Denken und zur Akzeptanz von Ungewissheit als epistemischer Haltung. Wer auf dem „Philosophenweg“ bleiben will, muss bereit sein, sich selbst infrage zu stellen – nicht nur intellektuell, sondern existenziell. Komplexität lässt sich nicht durch Kompliziertheit bewältigen, und Erkenntnis ist nicht Ziel, sondern Prozess. In dieser Einsicht liegt – ganz im sokratischen Sinne – der Anfang aller Philosophie.

Liebe Freunde,

 

wir sind einen langen Weg zusammen gegangen. Und bevor wir weitergehen, sollten wir kurz innehalten und uns fragen, ob wir überhaupt die notwendigen Voraussetzungen mitbrachten, um genau diesen Weg zu gehen. Nun ist es so, dass zu Beginn des Weges noch nicht klar war, dass es tatsächlich Voraussetzungen geben könnte, um diesen Weg zu gehen. Man ist einfach drauflosmarschiert. Auf der Karte war dieser Weg als „Philosophenweg“ verzeichnet. Und das heißt doch schonmal was. Oder vielleicht auch nicht? Und wenn es etwas heißt, was heißt es dann genau? Soviel zur Einleitung des heutigen Vortrages. Und weil mir im Moment etwas der Anschluss fehlt an diese etwas unglücklich gelaufene Einleitung, muss ich wohl irgendwie anders weitermachen. Vielleicht wieder einmal mit Komplexität und Kompliziertheit? Das hatten wir schon öfter, und es braucht keinerlei Vorkenntnis, um den Unterschied zu verstehen. Man sperre beispielsweise zehn, einander unbekannte Komplexitäten vom Typ Homo Sapiens in einen Raum und beobachte die stattfindenden Interaktionen, den Aufbau eines kleinen Regelwerks, beschreibbar und mehr oder minder kompliziert, bis es zu einem annähernd stabilen Verhalten kommt, was bedeutet, dass die Änderungsrate der Regeln nur noch gering ist und man das Zusammenspiel der zehn Einzelkomplexitäten als eine einzelne Komplexität höherer Ordnung begreift. Das ist uns allen bekannt. Die Komplexitäten erzeugen miteinander die Regeln, oder auch Kompliziertheiten, durch Interaktion, und dieser Vorgang, diese Veränderungen und neuen Regeln, oder, kurz gesagt, das Entstehen von Neuem, ist zeitlich. Das ist, wenn man das so nennen will, das eine Prinzip, nach dem alles abläuft, und zwar auf jeder Komplexitätsstufe. Komplexität, Kompliziertheit, Zeit. Alles dabei. Warum ich Sie damit langweile? Vielleicht hätte man dieses kleine Gedankenexperiment an den Anfang des „Philosophenweges“ stellen sollen? Dessen Akzeptanz als Zugangsvoraussetzung? Jetzt könnte jemand einwenden, dass es viele, viele Wege dieser Art gibt. Ist das wirklich so? Ich bezweifle es. Unglücklicherweise wird meist von den Regeln bzw. der Kompliziertheit ausgegangen, um dann zu versuchen, die Komplexität als eine sehr komplizierte Kompliziertheit zu verstehen. Damit fällt die Zeit unter den Tisch, und man ist gezwungen, diese im Nachhinein irgendwie wieder zu integrieren. Das Beleben des Unbelebten. Der „Philosophenweg“ ist definitiv nicht das Ziel. Und auch kein anderer Weg. Damit wird nur ein falscher Ansatz, ein hoffnungsloses Umherirren kaschiert. Am Ende ist es doch wieder das bekannte „Erkenne dich selbst“. Hat man sich selbst erkannt, und damit das eine Prinzip, ist auch alles andere erkannt. Nun ist es leider so, dass eine notwendige Voraussetzung für die Selbsterkenntnis der Selbstzweifel ist. Zweifelt man ausreichend an sich selbst, um den „Philosophenweg“ beschreiten zu dürfen? Wie sähe ein entsprechender Test aus? Folgendes Beispiel. Sagen wir, dass jemand bei Ihnen klingelt, sich aber in der Tür geirrt hat. Derjenige fragt nun nach jemandem, den Sie nicht kennen. Sie antworten wahrheitsgemäß, dass diese Person hier nicht wohnt. Der Klingler entschuldigt sich und zieht weiter. Nachdem Sie die Tür wieder geschlossen haben, fragen Sie sich nun, ob Sie sich nicht vielleicht geirrt haben, und die nachgefragte Person möglicherweise doch bei Ihnen wohnt und Sie das nur gerade vergessen haben? Das nenne ich wahren Selbstzweifel! Nun gut, liebe Freunde. Ich gehe fest davon aus, dass wir alle hier diese Voraussetzungen erfüllt haben und daher zusammen weitergehen werden auf unserem gemeinsamen Weg. Wie immer wünsche ich eine gute Nacht!

Analyse

Der vorliegende Vortrag – durchsetzt mit Ironie, selbstreflexivem Humor und philosophischer Dichte – entfaltet ein vielschichtiges Gedankenspiel über Erkenntnis, Selbsterkenntnis und die Bedingungen des Denkens selbst. Er beginnt als klassische Eröffnung an Weggefährten („Liebe Freunde“) und entfaltet sich zu einer Kritik an falschen philosophischen Zugängen. Im Zentrum stehen drei miteinander verwobene Konzepte: Komplexität, Zeitlichkeit und Selbstzweifel – letztere als notwendige Bedingung wahrer Selbsterkenntnis.

 

1. Der „Philosophenweg“ als Metapher der Orientierungslosigkeit

Die zentrale Metapher des „Philosophenwegs“ dient als ironischer Rahmen für die erkenntnistheoretische Fragestellung: Unter welchen Voraussetzungen darf man sich überhaupt als philosophisch Denkender bezeichnen? Der Weg wird zwar beschritten, aber ohne zu wissen, ob man die „Zugangsvoraussetzungen“ erfüllt – eine Anspielung auf das klassische platonische Motiv, dass Philosophie mit dem Eingeständnis des eigenen Nichtwissens beginnt (vgl. Platon, Apologie des Sokrates).

Hier schwingt auch eine Kritik an einem verbreiteten Missverständnis mit: Dass Philosophie ein geplanter, methodischer Weg sei – kartografierbar, systematisch, objektivierbar. Doch der Sprecher wirft Zweifel daran auf: Vielleicht ist die Karte – der „Philosophenweg“ – gar keine echte Orientierungshilfe, sondern selbst schon Teil des Problems.

 

2. Komplexität, Kompliziertheit und Zeitlichkeit

Im Hauptteil des Vortrags unterscheidet der Sprecher zwischen Komplexität und Kompliziertheit. Komplexität entsteht aus offenen, dynamischen Interaktionen, während Kompliziertheit strukturierte, abgeschlossene Systeme beschreibt. Der Versuch, komplexe Systeme mit komplizierten Methoden zu verstehen, führt laut dem Redner in die Irre – insbesondere, wenn dabei die Zeitlichkeit ignoriert wird.

Diese Überlegungen erinnern an Niklas Luhmanns Systemtheorie, insbesondere an seine Unterscheidung von komplexen Systemen, die durch ihre eigene Beobachtung und Kommunikation ihre Umwelt mitkonstruieren (vgl. Soziale Systeme, 1984). Zeit spielt hier eine fundamentale Rolle – sie ist nicht bloß Rahmen, sondern Konstituens des Wandels. Die Missachtung der Zeitlichkeit, so der Vortrag, führt zu einem „Beleben des Unbelebten“, zu einem rückwärtsgewandten Denken, das totes Regelwerk wieder mit Leben füllen will – ein aussichtsloses Unterfangen.

 

3. Der Selbstzweifel als Tor zur Selbsterkenntnis

Gegen Ende wendet sich der Vortrag der Frage der Selbsterkenntnis zu. Die Voraussetzung dafür sei nicht etwa Wissen, Logik oder intellektuelle Bildung, sondern wahrer Selbstzweifel. Dieser Zweifel wird nicht theoretisch postuliert, sondern in einer alltagsnahen Anekdote anschaulich gemacht: Der Gedanke, sich möglicherweise in der eigenen Identität geirrt zu haben, weil man den Namen eines Fremden nicht erkennt, wird zum Prüfstein existenzieller Offenheit.

Diese Szene erinnert in ihrer radikalen Infragestellung des eigenen Selbst an Descartes’ methodischen Zweifel, geht aber noch weiter: Während Descartes im Zweifel letztlich zur Gewissheit des „Cogito, ergo sum“ gelangt, bleibt der Vortrag bewusst in der Schwebe – es ist gerade die Ungewissheit, die als Bedingung für Erkenntnis gewürdigt wird. In dieser Hinsicht nähert sich der Vortrag Kierkegaards Existenzialismus an, insbesondere seiner Betonung des subjektiven Zweifels als Voraussetzung für wahrhafte Erkenntnis (Der Begriff Angst, 1844).

 

4. Gegen den falschen Weg – für eine erkenntniskritische Haltung

Die abschließende Bemerkung, dass der „Philosophenweg“ nicht das Ziel sei, sondern ein verschleierter Irrweg, richtet sich gegen philosophische Systeme, die mit fertigen Antworten beginnen. Der Redner plädiert für ein Denken, das von Unsicherheit, Bewegung und zeitlicher Offenheit geprägt ist. Statt finaler Gewissheiten geht es um einen Prozess der ständigen Revision – ein Denken in Bewegung.

Hier offenbart sich Nähe zu Paul Feyerabends Wissenschaftskritik (Wider den Methodenzwang, 1975), die dogmatische Ordnungen infrage stellt und erkenntnistheoretische Offenheit einfordert. Der Weg des Denkens ist nicht linear, sondern ein Feld widerstreitender Möglichkeiten – und gerade darin liegt sein Wert.

 

Fazit: Ein Appell an die Zweifelnden

Der Vortrag ist letztlich ein Aufruf zum nicht-dogmatischen Denken und zur Akzeptanz von Ungewissheit als epistemischer Haltung. Wer auf dem „Philosophenweg“ bleiben will, muss bereit sein, sich selbst infrage zu stellen – nicht nur intellektuell, sondern existenziell. Komplexität lässt sich nicht durch Kompliziertheit bewältigen, und Erkenntnis ist nicht Ziel, sondern Prozess. In dieser Einsicht liegt – ganz im sokratischen Sinne – der Anfang aller Philosophie.

 

Literaturhinweise:

  • Platon: Apologie des Sokrates

  • Descartes, René: Meditationen über die Erste Philosophie (1641)

  • Kierkegaard, Søren: Der Begriff Angst (1844)

  • Luhmann, Niklas: Soziale Systeme (1984)

  • Feyerabend, Paul: Wider den Methodenzwang (1975)