Die Wanderung

Der Dialog zwischen Hankman und seinem Gesprächspartner ist mehr als bloße Unterhaltung. Er funktioniert als Sprachspiel, als Reflexion über Bedeutung, als Parodie auf übersteigerte Assoziationslogik. Er macht deutlich, dass Sprache nicht nur informiert, sondern Wirklichkeiten erschafft – auch absurde, groteske, irrationale Wirklichkeiten.

Hey, Hankman! Ich gehe am Wochenende wandern.

 

Ich finde es merkwürdig, wandern zu gehen.

 

Warum überrascht mich das jetzt nicht?

 

Das kann ich dir nicht sagen. Das musst du schon selbst wissen. Natürlich hätte ich dir eine Überraschung gegönnt. Denn ich glaube, du magst Überraschungen. Zumindest bin ich mir einigermaßen sicher. Selbstverständlich spreche ich von positiven Überraschungen. Das andere lassen wir mal weg. Gut, diesmal hat es offensichtlich nicht funktioniert. Aber vielleicht kann ich dich zu einem späteren Zeitpunkt überraschen. Wie wäre das?

 

Von mir aus. Wie gesagt, ich gehe am Wochenende wandern.

 

Für mich ist das nichts. Ich finde es merkwürdig, wandern zu gehen. Ich weiß nicht, ich finde schon allein das Wort etwas unheimlich. Wandern. Versuch mal, das mit einem ganz langgezogenen A auszusprechen. Waaaaaaandern. Klingt doch komisch, oder? Fast gruselig. Waaaaandern durch den dunklen Waaaaaald. Da krieg ich eine Gänsehaut. Und das willst du wirklich tun? Ich würde mich lieber nicht unnötig in Gefahr begeben. Wer weiß, was einem dabei alles zustoßen kann? Stell dir vor, du wanderst durch den dunklen Wald und eine unheimliche Gestalt ist hinter dir her. Du fängst an zu rennen. Schneller, immer schneller. Und plötzlich stehst du vor einer Wand. Wandern – Wand. Du verstehst? Wo die Wand herkommt? Keine Ahnung. Ist doch deine Wanderung, nicht meine. Was rennst du auch genau in Richtung der Wand? Nimm auf jeden Fall deine Kletterausrüstung mit. So hast du wenigstens die Chance, über die Wand zu entkommen. Obwohl, man weiß ja nicht, was oben auf einen wartet? Beängstigend. Doch solltest du es versuchen. Irgendetwas sagt mir, dass das die bessere Option ist. Und oben angekommen, solltest du schnellst möglichst Hilfe holen. Wenn ich einen Hubschrauber fliegen könnte, wäre ich sofort zur Stelle. Wie ist eigentlich die Reichweite von so einem Hubschrauber? Denn wenn deine Wanderung sehr weit weg von hier stattfindet, dann könnte das knapp werden mit dem Hubschrauber. Das solltest du dir vorher genau überlegen. Wann geht die Wanderung eigentlich los? Schließlich müsste ich den Hubschrauber noch volltanken.

 

Morgen. In aller Frühe.

 

Oh, das wird knapp. Dann muss ich dich leider erstmal hier stehen lassen, denn es gibt noch eine Menge vorzubereiten. Du verstehst?

 

Klar.

Analyse

Der vorliegende Dialog zwischen zwei Personen – einer, die wandern gehen will, und „Hankman“, der sich darüber wundert – entfaltet sich als eine sprachliche Groteske, in der das scheinbar Banale (eine Wanderung) zur Projektionsfläche einer assoziativen, absurden Gedankenreise wird. Hinter der vordergründigen Skurrilität des Textes verbirgt sich jedoch eine tiefere Reflexion über Sprache, Angst, Imagination und Kommunikation – eine Reflexion, die an literarisch-philosophische Strömungen des Absurden, des Dadaismus sowie der Sprachkritik erinnert.

 

1. Alltäglicher Anlass, ungewöhnliche Reaktion

Der Einstieg ist schlicht: „Ich gehe am Wochenende wandern.“ Eine unauffällige, freundliche Mitteilung. Doch Hankmans Antwort ist ungewöhnlich: „Ich finde es merkwürdig, wandern zu gehen.“ Schon hier wird eine grundlegende Diskrepanz zwischen Alltagslogik und Hankmans Weltbild sichtbar. Wo der eine eine klare Handlung plant, reagiert der andere mit Irritation – nicht aufgrund der Aktivität selbst, sondern offenbar bereits wegen ihrer sprachlichen Form.

Diese Haltung erinnert an den absurden Blick, wie ihn Albert Camus in Der Mythos des Sisyphos beschreibt: Die Welt wird nicht als gegeben hingenommen, sondern erscheint fremd, irrational, unverständlich. Auch Hankman empfindet das Wort „wandern“ als unheimlich, fremd, ja beinahe bedrohlich. Seine Irritation gilt nicht dem Wandern per se, sondern der Symbolik, die er damit assoziiert – ein klassisches Merkmal absurder Weltauffassung.

 

2. Sprachskepsis und Klangspiel

Besonders auffällig ist die sprachphilosophische Komponente des Dialogs: Hankman verweilt nicht bei der inhaltlichen Ebene, sondern beginnt, das Wort selbst zu sezieren: „Waaaaaaandern durch den dunklen Waaaaaald.“ Er überdehnt den Klang, entfremdet das Wort, dekonstruiert es. Dieses Vorgehen erinnert an die Sprachskepsis Ludwig Wittgensteins (Philosophische Untersuchungen), aber auch an dadaistische Sprachspielereien, wie sie Hugo Ball oder Kurt Schwitters betrieben haben. Sprache wird nicht mehr als neutrales Medium verstanden, sondern als Raum der Verwirrung, Dehnung und Bedeutungsverschiebung.

Auch psychoanalytisch ließe sich Hankmans Reaktion lesen: Seine Imagination eskaliert in ein Horrorszenario – der dunkle Wald, eine unheimliche Gestalt, eine Wand. Das ursprünglich positive oder neutrale Wort „wandern“ wird zur Auslöserin einer irrationalen Angstkette. Sigmund Freud hätte vielleicht von einer freien Assoziation gesprochen, in der verdrängte Ängste in symbolischer Form auftauchen.

 

3. Ironie, Hyperbel und die Struktur des Monologs

Obwohl es sich um einen Dialog handelt, nimmt Hankman die Bühne vollständig ein. Seine Antwort transformiert sich in einen ausufernden Monolog, der mit zunehmender Länge immer weiter vom ursprünglichen Thema abdriftet. Der Effekt ist komisch, aber auch irritierend: Wo endet Ironie, wo beginnt Ernst?

Diese Struktur erinnert an Theaterdialoge des Absurden, etwa bei Samuel Beckett (Warten auf Godot) oder Eugène Ionesco (Die Stühle), wo Kommunikation weniger der Verständigung als der Entblößung ihrer eigenen Unzulänglichkeit dient. Die Rede wird Selbstzweck, Ausdruck eines Bewusstseins, das keine festen Bedeutungen anerkennt.

Besonders eindrücklich ist die absurde Logik, mit der Hankman seine Angstkaskade steigert: von der Wortfurcht über die Wand bis zur Idee, mit einem Hubschrauber zur Rettung zu fliegen – inklusive Fragen zur Reichweite und zum Tanken. Das ist Slapstick auf sprachlicher Ebene, ein absurdes Gedankenexperiment, das sich selbst immer weiter auflädt, ohne je zur Realität zurückzukehren.

 

4. Zwischen Paranoia und Fürsorge

Interessanterweise bleibt Hankman trotz seiner Ausführungen nicht bloß ein Karikaturist des Absurden. Hinter all den Übertreibungen liegt auch ein Ausdruck von Fürsorge. Er denkt mit, sorgt sich – auf seine verschrobene Weise – um das Wohlergehen des Wandernden. Die Grenze zwischen Angst und Empathie ist fließend. Man fühlt sich erinnert an Don Quijote, der die Welt zwar missversteht, aber aus idealistischen Motiven handelt.

 

5. Schluss: Rückkehr zur Normalität

Der Dialog endet mit einer lapidaren Feststellung: „Oh, das wird knapp. Dann muss ich dich leider erstmal hier stehen lassen, denn es gibt noch eine Menge vorzubereiten. Du verstehst?“ – „Klar.“
Nach all den Ausschweifungen kehren die Figuren zur pragmatischen Realität zurück. Der Wechsel ist abrupt, fast absurd. Genau darin liegt der Humor des Textes: Im völligen Gegensatz zwischen dem hyperassociativen Monolog Hankmans und der Gelassenheit seines Gegenübers.

 

Fazit: Philosophie als Sprachspiel und Gedankentheater

Der Dialog zwischen Hankman und seinem Gesprächspartner ist mehr als bloße Unterhaltung. Er funktioniert als Sprachspiel, als Reflexion über Bedeutung, als Parodie auf übersteigerte Assoziationslogik. Er macht deutlich, dass Sprache nicht nur informiert, sondern Wirklichkeiten erschafft – auch absurde, groteske, irrationale Wirklichkeiten.

In Hankmans „Waaaaaaandern“ offenbart sich eine Haltung, die große Ähnlichkeit mit den literarischen und philosophischen Strömungen des 20. Jahrhunderts hat: dem Existenzialismus, dem Surrealismus, der absurden Literatur und der Sprachkritik. Der Text fordert uns auf, alltägliche Begriffe zu hinterfragen, ihre vermeintliche Klarheit zu dekonstruieren – und darüber zu lachen.

Denn vielleicht ist es genau dieses Lachen – über Sprache, über unsere Ängste, über die Welt – das uns vor dem Erstarren bewahrt.