Ein hochironischer, sprachspielerischer Text, der den modernen Drang zur Selbstoptimierung, Effizienzsteigerung und Dauerorientierung infrage stellt. Durch die absurde Übersteigerung des Begriffs „Weg“ wird nicht nur ein semantisches Spiel betrieben, sondern ein philosophisches Statement gemacht: Vielleicht geht es gar nicht mehr um den richtigen Weg – sondern um die Fähigkeit, den Drang zum Wegemachen zu hinterfragen.
Eine ganz schöne Wegerei ist das hier.
Pausenlos wird gewegt und wieder entwegt.
Kennt denn keiner den richtigen Weg?
Immer wieder dieses Wegen des Unwegsamen.
Nur um am Ende doch wieder alles zu entwegen.
Wer ist sich eigentlich noch sicher, dass er auch den richtigen Weg wegt bzw. entwegt?
Vermutlich keiner.
Trotzdem wird weiter munter drauflos gewegt und entwegt.
Niemand gönnt sich auch nur die kleinste Pause.
Denn es könnte ja sein, dass der mühsam gewegte Weg von einem anderen wieder entwegt wird.
Und das ist unbedingt zu vermeiden.
Denn dann wäre die ganze Arbeit umsonst.
Also, nicht nachlassen.
Mehr Effizienz.
Nur durch beharrliches Wegen und Entwegen hat man die Chance auf neue Wege.
Und alles wegen...
Weswegen?
Ich muss weg und mach mich mal auf den Weg.
Analyse
„Eine ganz schöne Wegerei ist das hier“ – mit diesem Satz beginnt der Text „Von Wegen“ und lässt bereits erahnen, dass der Weg selbst – und nicht sein Ziel – zum Gegenstand der Kritik wird. Der Text nimmt die Sprache selbst als Ausgangspunkt für eine Reflexion über Orientierung, Aktionismus und Sinnsuche. In ironischer Manier wird das Wort „Weg“ in immer neuen morphologischen Varianten durchdekliniert: wegt, entwegt, gewegte Wege, Wegerei – ein bewusst absurd übersteigerter Sprachwitz, der aber tiefer reicht, als es auf den ersten Blick scheint.
1. Wortspiele als Sinnkritik: Sprache in der Auflösung
Der Text spielt mit dem Begriff „Weg“ als einem zentralen metaphorischen Element westlicher Rationalität und Fortschrittslogik. In unserer Kulturgeschichte steht der „Weg“ oft für Erkenntnis, Entwicklung oder Zielgerichtetheit – etwa bei Aristoteles’ Begriff des telos, Hegels „Gang des Geistes“ oder auch in Heideggers berühmter Formulierung „Der Mensch ist der Hirt des Seins“ – der durch die Welt geht und sich auf den Weg macht.
Der Text von Proemial dekonstruiert diese Vorstellung spielerisch: Durch die wiederholte Verbalisierung des Nomens („wegt“, „entwegt“, „gewegt“) entsteht eine absurde Sprachmaschine, die an Wittgensteins frühe Sprachkritik erinnert (Tractatus logico-philosophicus, 1921), in der deutlich wird: Sprache kann leicht zur sinnlosen Wiederholung und Selbstreferenz werden, wenn sie ihren Bezug zur Welt verliert.
Die wiederholte Frage „Kennt denn keiner den richtigen Weg?“ wirkt deshalb nicht wie ein Aufruf zur Orientierung, sondern wie ein ironischer Verweis auf die völlige Desorientierung durch Überorientierung – durch das ständige Planen, Bewegen, Neujustieren. Der Weg verkommt zur bloßen Tätigkeit, nicht mehr zur Richtung.
2. Die Paradoxie des Fortschritts: Weg um des Weges willen
„Pausenlos wird gewegt und wieder entwegt“ – diese Formulierung bringt den Grundton des Textes auf den Punkt: Ein Aktionismus, der keinen Bezug mehr zu einem Ziel hat. Der Text illustriert eine zentrale Paradoxie der Moderne, die auch von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung (1944) beschrieben wurde: Die instrumentelle Vernunft hat sich von ihren Zwecken abgekoppelt. Es wird gehandelt, um zu handeln, nicht mehr, um etwas Bestimmtes zu bewirken.
Der Text führt dieses Phänomen ad absurdum: Die ständige Sorge, dass der „mühsam gewegte Weg“ durch andere wieder „entwegt“ wird, erinnert an das Konkurrenzdenken in Leistungsgesellschaften – alles muss effizient sein, durchsetzungsfähig, dauerhaft. Der „Weg“ wird zur Ware, zum Projekt, zum Produkt, das verteidigt werden muss. Eine Art existenzieller Kapitalismus.
3. Sisyphos in der Bürokratie: Die Sinnlosigkeit der Dauerbewegung
Im Zentrum des Textes steht somit die Verwandlung des Weges in eine endlose Schleife. Diese erinnert an Albert Camus’ Bild des Sisyphos (Der Mythos des Sisyphos, 1942), der ewig den Stein den Berg hinaufrollt, nur um ihn erneut hinabrollen zu sehen. Doch anders als bei Camus geht es hier nicht um ein metaphysisches Schicksal, sondern um einen selbstproduzierten Aktionismus, der aus Angst vor dem Bedeutungsverlust permanent in Bewegung bleibt.
„Niemand gönnt sich auch nur die kleinste Pause“ – diese Formulierung verweist auf das Verschwinden von Kontemplation und Innehalten. In einer Gesellschaft, die Effizienz über alles stellt (vgl. Byung-Chul Han: Müdigkeitsgesellschaft, 2010), wird jede Pause bereits als Rückschritt empfunden. Statt Reflexion herrscht Dauerbeschäftigung. Der Weg wird zur Flucht vor der Bedeutungslosigkeit.
4. Entwegung als Entzauberung
Die wiederkehrende Figur der „Entwegung“ wirkt wie ein Gegenbegriff zu Fortschritt: Es ist der Rückbau, die Revision, das Infragestellen vorheriger Entscheidungen. Diese Dialektik – alles wird gemacht, nur um wieder rückgängig gemacht zu werden – steht für eine tiefere Skepsis gegenüber menschlicher Planung und Zielorientierung. Der Text zeigt: Die Welt wird zunehmend „unwegsam“, weil das Wege-Machen selbst zur Irritation führt.
Hier drängt sich ein Vergleich zu Niklas Luhmanns Systemtheorie auf, der betonte, dass Komplexitätsreduktion durch Entscheidungen zwar notwendig sei, aber zugleich neue Unsicherheiten erzeugt (Soziale Systeme, 1984). Jeder „gewegte“ Weg ist daher potenziell falsch – und bedarf möglicherweise einer „Entwegung“.
5. Die Pointe: „Ich muss weg“
Der Text endet mit der scheinbar harmlosen Redewendung: „Ich muss weg und mach mich mal auf den Weg.“ Diese Alltagsfloskel wird zum sarkastischen Echo der gesamten vorherigen Debatte. Nachdem das ganze Konzept des „Weges“ dekonstruiert wurde, tritt das Subjekt einfach aus dem Diskurs – nicht, weil es eine Lösung gefunden hat, sondern weil es resignativ den Kreislauf verlässt. Oder besser: ihn auf humorvolle Weise unterläuft.
Diese Pointe erinnert an die Strategie des „philosophischen Humors“, wie ihn auch Kierkegaard in Die Krankheit zum Tode beschreibt: Der Humor ist nicht bloß Witz, sondern eine existenzielle Technik der Ironie gegenüber der Absurdität des Lebens.
Fazit: Wege ohne Richtung – oder die Kunst der Ironie
„Von Wegen“ ist ein hochironischer, sprachspielerischer Text, der den modernen Drang zur Selbstoptimierung, Effizienzsteigerung und Dauerorientierung infrage stellt. Durch die absurde Übersteigerung des Begriffs „Weg“ wird nicht nur ein semantisches Spiel betrieben, sondern ein philosophisches Statement gemacht: Vielleicht geht es gar nicht mehr um den richtigen Weg – sondern um die Fähigkeit, den Drang zum Wegemachen zu hinterfragen.
Der Text ist damit nicht nur eine Sprachsatire, sondern ein kritisches Stück Gegenwartsdiagnose im Stil von Adorno, Camus oder Han – allerdings verpackt in lakonischer Ironie.
Literaturhinweise:
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Albert Camus: Der Mythos des Sisyphos, 1942
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Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen, 1979
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Byung-Chul Han: Müdigkeitsgesellschaft, 2010
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Niklas Luhmann: Soziale Systeme, 1984
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Søren Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode, 1849
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Theodor W. Adorno / Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung, 1944