Die Weltformel

Der Dialog ist eine gelungene Miniatur über menschliche Hybris, über das Bedürfnis nach Sinn – und über die Unfähigkeit, diesen zu fassen. Die große Frage nach dem Ganzen wird hier nicht beantwortet, sondern auf eine Bühne gestellt, als lächerlich übergroße Requisite eines zu ehrgeizigen Gedankens. Humor wird zur Methode der Demontage.

Schau mal, hier. Ich habe ich die Weltformel aufgeschrieben...

 

Lass mal sehen. Oh, das ist ja hochinteressant. Die Weltformel also. Die ganze Welt als Gleichung, nur ein paar abstrakte Symbole. Übst du wieder für deine Comedy-Show?

 

Erwischt. Ich dachte mir, dass mich an das Publikum wende, ganz aufgeregt mit einem Zettel in der Hand herumwedele, und sage: „Ihr werdet es mir nicht glauben, was ich hier in der Hand halte...“ Dann wie immer eine kleine Pause, um die Spannung zu steigern. Vielleicht deute ich noch was von Einkaufszettel oder so an. Und dann sage ich, als ob ich etwas wiedergefunden hätte, das ich schon ewig gesucht habe: „Die Weltformel! Es ist die Weltformel!“ Nicht lustig?

 

Nicht wirklich.

 

Trotzdem. Eine Weltformel! Allein der Gedanke! Gib zu, das ist schon lustig?

 

Ja, ja. Irgendwie schon. Weißt du, was du noch tun könntest? Du könntest dein Stück Papier auf einen Tisch legen, und dann musst du irgendwie dafür sorgen, dass es so aussieht, als ob das Papier lebendig wird. Halt, nein. Das wäre unglaubwürdig. Es muss von Anfang an lebendig sein. Jetzt hab ich es. Du steckst das Papierstück in eine Art sicheren Behälter. Und der Behälter muss Geräusche machen, und dann behauptest du, in der Box ist die Weltformel, die sich jedoch permanent von selbst weiterentwickelt und der es langsam zu eng wird. Das wäre lustig.

 

Du hast recht. Das war wohl noch nicht so optimal vorbereitet.

 

Macht nichts. Weltformel! Trotzdem gut. Muss man erstmal darauf kommen.

 

Ich hätte noch behaupten können, dass sich die Weltformel selbst geschrieben hat?

 

Nicht lustig.

 

Stimmt.

Analyse

Der kurze Dialog „Die Weltformel“ ist ein pointiertes Spiel mit einem der ehrgeizigsten Träume der Menschheit: der Idee, alles – die gesamte Wirklichkeit – in einer einzigen Formel erfassen zu können. Der Text zieht dieses Konzept auf charmant-ironische Weise ins Absurde und zeigt dabei zugleich dessen metaphysische Sehnsucht und das Scheitern an der Realität. Zwischen absurdem Humor und stiller Verzweiflung entfaltet sich ein Reflexionsraum über die Grenzen von Erkenntnis, Sprache – und Humor.

 

1. Die Weltformel als moderner Mythos

Der Ausdruck „Weltformel“ verweist auf ein altes Streben: Die Einheit des Universums in eine kohärente, vollständige Theorie zu fassen. In der Physik wird sie oft als Theory of Everything (ToE) bezeichnet – ein Ziel, das Einstein zeitlebens verfolgte und das bis heute in der Stringtheorie oder Quantengravitation weiterlebt.

Im Dialog wird diese Idee jedoch sofort konterkariert:

„Die Weltformel also. Die ganze Welt als Gleichung, nur ein paar abstrakte Symbole.“

Die scheinbare Reduktion aller Komplexität auf eine symbolische Darstellung entlarvt sich schnell als Überhöhung – das Projekt der totalen Erklärbarkeit erscheint plötzlich lächerlich, gerade weil es auf einem Zettel Platz finden soll. Die Szene erinnert an Jorge Luis Borges' Erzählung „Von der strengen Wissenschaft“, in der eine Karte von einem Land erstellt wird, die exakt so groß ist wie das Land selbst – ein absurdes Unterfangen, das die Idee totaler Repräsentation ins Groteske führt.

 

2. Komik als Entlarvung

Der Witz mit dem Zettel – angeblich die Weltformel – wird in der Dialogszene nicht nur durchgespielt, sondern de-konstruiert. Die Pointe liegt nicht im Gag selbst, sondern im Scheitern des Gags:

„Nicht lustig?“
„Nicht wirklich.“

Der Autor schafft hier eine Meta-Komik, indem er den Humor vorführt, aber auch kritisch reflektiert. Das Stück funktioniert wie eine improvisierte Theaterszene, in der zwei Figuren versuchen, aus der größten denkbaren Idee – der Entschlüsselung der Welt – Unterhaltung zu machen, und genau daran scheitern. Das erinnert stark an Samuel Beckett, insbesondere „Endspiel“ oder „Warten auf Godot“: Der Humor entsteht nicht aus dem Gelingen, sondern aus der Absurdität des Versuchens.

 

3. Ironie über das Verhältnis von Wissen und Welt

Im Hintergrund steht ein erkenntnistheoretisches Problem: Selbst wenn es eine Weltformel gäbe – wäre sie verstehbar? Wäre sie mehr als eine Selbsthypnose der Sprache? Der Gedanke, die Weltformel sei in einer Box, die wächst und Geräusche macht, spielt auf die Idee an, dass Theorien nicht statisch sind, sondern sich verändern, aus sich selbst heraus entwickeln – eine parodistische Anspielung auf Hegels Begriff in Bewegung oder auf das lebendige Werden bei Heraklit.

„...in der Box ist die Weltformel, die sich jedoch permanent von selbst weiterentwickelt.“

Diese Vorstellung widerspricht radikal dem klassisch-physikalischen Weltformel-Ideal. Sie evoziert eher poststrukturalistische Gedanken (vgl. Derrida oder Deleuze), nach denen jede feste Struktur durch den Prozess selbst dekonstruiert wird. Die Weltformel wird hier nicht zur Antwort, sondern zum Prozess, zur Bewegung – zur Komödie des Denkens.

 

4. Der Mensch als tragikomischer Erklärer

Der zentrale Witz liegt letztlich darin, dass Menschen überhaupt meinen, sie könnten die Welt in eine Formel fassen – eine Anmaßung, die philosophisch wie komödiantisch unterlaufen wird:

„Ich hätte noch behaupten können, dass sich die Weltformel selbst geschrieben hat?“
„Nicht lustig.“

In diesem kurzen Moment wird das Verhältnis von Schöpfer und Geschaffenem auf den Kopf gestellt. Eine Weltformel, die sich selbst schreibt, ist eine paradoxe Schöpfung – ähnlich wie die berühmte Gödel’sche Unvollständigkeit, die besagt, dass ein System seine eigene Konsistenz nicht vollständig beweisen kann. Die Idee wird zum Witz – der aber scheitert. Und genau das macht ihn philosophisch bedeutsam.

 

5. Fazit: Die Weltformel als Spiegel des Menschen

Der Dialog „Die Weltformel“ ist eine gelungene Miniatur über menschliche Hybris, über das Bedürfnis nach Sinn – und über die Unfähigkeit, diesen zu fassen. Die große Frage nach dem Ganzen wird hier nicht beantwortet, sondern auf eine Bühne gestellt, als lächerlich übergroße Requisite eines zu ehrgeizigen Gedankens. Humor wird zur Methode der Demontage. Die Figuren erkennen die Lächerlichkeit ihrer Suche, bleiben aber darin menschlich – fast rührend.

Die Weltformel existiert hier nicht als Lösung – sondern als Chiffre für das Verlangen nach Bedeutung, das sich selbst auf die Schippe nimmt.

 

Verweise und Parallelen:

  • Albert Einstein – Suche nach der einheitlichen Feldtheorie

  • Stephen Hawking, Eine kurze Geschichte der Zeit

  • Gödel's Unvollständigkeitssätze – Grenzen formaler Systeme

  • Samuel Beckett, Warten auf Godot, Endspiel

  • Jorge Luis Borges, Von der strengen Wissenschaft

  • Hegel, Wissenschaft der Logik – Begriff als Selbstbewegung

  • Jacques Derrida, Différance – Dekonstruktion von Struktur