Der Vortrag beginnt mit einer ironischen Distanz zur Frage, die bereits Augustinus in Verlegenheit brachte: „Was ist Zeit?“ – Eine Frage, die man nur so lange zu verstehen glaubt, wie man nicht versucht, sie zu beantworten. Die rhetorische Resignation schlägt um in ein verspieltes Ernstnehmen der Problematik: Zeit als etwas, das einerseits gemessen werden kann, andererseits aber eine existenzielle Tiefe besitzt, die sich jeder quantitativen Beschreibung entzieht.
Liebe Zeithabende,
aufgrund der vielen Anfragen zu diesem ganz bestimmten Thema, will ich es kurz machen. Die Zeit. Was ist das eigentlich? Und nachdem diese etwas kraftlose Frage gestellt wurde, wollen wir nun wirklich anfangen. Denn die Zeit läuft. Gut. Da gibt es diese zwei Dinge, die man unterscheiden muss, sonst bleibt man für alle Ewigkeit im Ungewissen. Da ist erstens das, was man glaubt zu wissen. Die berühmte Gewissheit, wie immer unter Ausschluss dessen, was man nicht in der Lage ist zu sehen. Das ist, Sie ahnen es, wieder einmal unsere Weltvorstellung, erlangt durch unser aktives Dasein in der Welt. Im Falle der Zeit bedeutet das, dass wir erkannt haben, dass es recht gute Regelmäßigkeiten gibt, periodische Vorgänge, die auch extrem langsam ablaufen können, gern auch mit einer unendlichen Periodendauer, wo sich dann gar nichts mehr zu tun scheint. Aber das ist nur eine kleine Spitzfindigkeit. Sie wissen, worauf ich hinauswill. Beispielsweise auf eine Uhr, deren Zeiger mit der bekannten Periodendauer rotieren, ganz im Gegensatz zum Ziffernblatt. Hier kommt es nur auf die Differenz der beiden Periodendauern an, denn schließlich könnte ja auch die Uhr als Ganzes sich um sich selbst drehen. Ich weiß, das ist alles unglaublich langweilig, doch behalten Sie das bitte im Hinterkopf, denn schließlich kommt alles auf die Unterscheidung an zwischen diesem und dem Folgenden. Und es ist nicht nur die Unterscheidung, es ist das Zusammenspiel der beiden, das letztendlich entscheidend sein wird für ein vollständiges Verständnis. Kommen wir von den Gewissheiten und den physikalischen Beschreibungen zu den Ungewissheiten des Irreversiblen, des Neuen, des Lebens usw. Es gibt viele Begriffe dafür, aber eben keine eindeutigen technischen Beschreibungen. Wieso es diese nicht geben kann, hatten wir vermutlich schon besprochen. Und damit haben wir auch schon unsere eingangs angekündigten zwei Dinge. Die reversiblen Unveränderlichen und die Irreversiblen, zu denen wir wohl alle gehören. Und ich sehe auch, dass im Laufe der letzten Minuten einige von Ihnen mehr gealtert zu sein scheinen als andere. Das lässt sich leider nicht rückgängig machen. Denn so ist das Leben. Jeder von Ihnen lässt seine Prozesse zur Schaffung von irreversibel Neuem ein klein wenig unterschiedlich ablaufen, wenn auch in sehr ähnlicher Art und Weise. Und da das, was Sie üblicherweise als Ihr Ich, Selbst, Person oder was auch immer bezeichnen, als Gesamtheit dieser Prozesse und Produkte unzweifelhaft auf den Punkt zusteuert, wo so viele Irreversibilitäten geschaffen sein werden, dass diese den Prozessen kaum noch Spielraum lassen, ist es leider unausweichlich, dass Sie als Person, oder auch als Gesamtprozess, aufhören werden zu existieren, einfach weil die geschaffenen Irreversibilitäten nur noch im Weg sind und wichtige Interaktionen nicht mehr zulassen. Erstarrung ist vielleicht ein geeigneter Begriff. Wer hier an Bürokratie denkt, liegt durchaus nicht falsch. Es ist immer dasselbe Prinzip. Doch zurück zum Thema und zu dessen Abschluss. Was wird nun üblicherweise getan? Man benutzt die periodischen Vorgänge, die in ihrer Abstraktheit und vorgestellten Unveränderlichkeit selbst zeitlos sind, als ein geeignetes Hilfsmittel, um das aufgrund seiner permanenten Erzeugung von Irreversiblem und wirklich Neuem (nicht nur irgendwie Umsortiertem) tatsächlich Zeithabende etwas vorhersagbarer zu gestalten. Und damit wird es Zeit. Wie immer für etwas Neues. In diesem Falle, auch wenn es nach Wiederholung aussieht, für eine neue Nacht. In diesem Sinne. Gute!
Analyse
Der Vortrag „Zeitspiel“ beginnt mit einer ironischen Distanz zur Frage, die bereits Augustinus in Verlegenheit brachte: „Was ist Zeit?“ – Eine Frage, die man nur so lange zu verstehen glaubt, wie man nicht versucht, sie zu beantworten. Im Vortrag wird diese Hilflosigkeit gleich zu Beginn benannt:
„Die Zeit. Was ist das eigentlich? Und nachdem diese etwas kraftlose Frage gestellt wurde, wollen wir nun wirklich anfangen.“
Die rhetorische Resignation schlägt um in ein verspieltes Ernstnehmen der Problematik: Zeit als etwas, das einerseits gemessen werden kann, andererseits aber eine existenzielle Tiefe besitzt, die sich jeder quantitativen Beschreibung entzieht. Die Bühne ist bereitet für die klassische Zweiteilung der Zeit in reversible Ordnung und irreversibles Geschehen.
2. Zeit als Regelmäßigkeit: Die Uhr und das Ziffernblatt
Zunächst führt uns der Vortrag in den Bereich des Messbaren – in eine physikalische Zeitauffassung, die auf periodischen Vorgängen beruht: Planetenumläufe, Pendelbewegungen, Atomschwingungen. Zeit als Taktgeber, als Zählung von Gleichförmigkeit:
„Beispielsweise auf eine Uhr, deren Zeiger mit der bekannten Periodendauer rotieren, ganz im Gegensatz zum Ziffernblatt.“
Diese Beobachtung ist nicht bloß technisch, sondern erkenntnistheoretisch aufgeladen: Selbst die scheinbare Objektivität der Zeitmessung beruht auf einer Wahl von Bezugspunkten. Die Uhr könnte sich auch als Ganzes drehen – was zählt, ist die Differenz. Zeit erscheint hier als kulturelles Koordinatensystem, nicht als Substanz.
Die physikalische Zeit ist reversibel – in Gleichungen kehrt sie sich umstandslos um. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind austauschbare Variablen. Das erinnert an Isaac Newtons absolute Zeitvorstellung, aber auch an moderne Relativitäts- und Quantentheorien, in denen Zeit als Symmetrieelement mathematischer Beschreibungen auftaucht.
3. Zeit als Irreversibilität: Leben, Alter, Tod
Dem gegenüber steht der zweite Zeitbegriff des Vortrags: die gelebte Zeit, das irreversible Werden. Der Vortrag bezeichnet es als das Reich der „Ungewissheiten des Irreversiblen, des Neuen, des Lebens“. Während Uhren kreisen, bewegen sich Lebewesen vorwärts – alternd, vergehend, Erinnerungen sammelnd.
„Ich sehe auch, dass im Laufe der letzten Minuten einige von Ihnen mehr gealtert zu sein scheinen als andere.“
Diese ironische Wendung verweist auf ein ernstes Moment: Die subjektive Zeit ist nicht gleichförmig. Sie wird durch Ereignisse strukturiert – durch das, was neu und nicht rückgängig zu machen ist. Es ist das, was Henri Bergson als durée bezeichnete: eine qualitative Zeit, die nicht messbar, sondern erlebbar ist.
Auch Martin Heidegger spielt in Sein und Zeit mit dieser Differenz: Zeit ist dort nicht einfach eine Abfolge von Jetztpunkten, sondern die Struktur unseres In-der-Welt-Seins. Sie ist existenzial, d.h. sie gehört zum Wesen des Daseins. Und der Tod? Kein äußerer Endpunkt, sondern dasjenige, was dem Leben seinen Charakter als Zeitlichkeit verleiht.
4. Das Ich als Prozess: Die Erstarrung des Selbst
Ein zentrales Bild des Vortrags ist das des Ichs als Prozess, der durch eine Vielzahl irreversibler Entscheidungen geformt wird – bis er irgendwann erstarrt:
„...einfach weil die geschaffenen Irreversibilitäten nur noch im Weg sind und wichtige Interaktionen nicht mehr zulassen.“
Hier rückt der Vortrag in gesellschaftskritische Nähe – das Bild der „Bürokratie“ als Symbol erstarrter Systeme. Wie Individuen altern, so auch Organisationen: aus Anpassungsfähigkeit wird Struktur, aus Struktur Starrheit, aus Starrheit Stillstand. Das Selbst verliert sein Spiel mit der Zeit, wenn es nicht mehr offen ist für Neues.
Diese Sichtweise findet eine Parallele in der Prozessphilosophie, etwa bei Alfred North Whitehead, der die Welt als ein Netz von werdenden Ereignissen beschreibt – nicht als feststehende Substanzen, sondern als kontinuierlicher Fluss. Zeit ist hier das Medium aller Realität.
5. Zeittechniken: Periodik als Stabilisator
Was tun wir mit diesem Wissen um die Zeit? Laut dem Vortrag nutzen wir das Periodische, also das scheinbar Zeitlose, um das Irreversible zu strukturieren. Das ist das Prinzip aller Kalender, Uhren und Rhythmen:
„Man benutzt die periodischen Vorgänge ... als ein geeignetes Hilfsmittel, um ... das tatsächlich Zeithabende etwas vorhersagbarer zu gestalten.“
Diese Dialektik – Ordnung durch das Unveränderliche, Orientierung im Veränderlichen – durchzieht die gesamte menschliche Kultur. Rituale, Taktungen, Pläne – sie geben Halt im Strom des Werdens. Doch diese Techniken können auch lähmen, wenn sie nicht mit dem Unplanbaren rechnen.
6. Fazit: Zeit als Spielraum des Neuen
Der Vortrag schließt mit einem paradoxen Gedanken: Zeit ist das, was vergeht – und gerade darin besteht ihr Wert. Ohne das Irreversible gäbe es kein Neues, keine Biografie, keine Geschichte, keine Freiheit. Dass wir älter werden, ist nicht nur Verlust, sondern Bedingung für Identität. Und selbst das Ende – das Aufhören als Person – ist Teil des Spiels.
„Denn so ist das Leben.“
Im „Zeitspiel“ wird Philosophie zu einem Zwischenruf gegen Erstarrung – einer Erinnerung daran, dass Zeit nicht nur gemessen, sondern gelebt werden will. Und vielleicht auch ein Vorschlag, sich nicht zu ernst zu nehmen. Denn letztlich ist Zeit nur dann „verloren“, wenn wir glauben, sie besitzen zu können.
Philosophische Verweise:
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Augustinus, Confessiones XI: „Was also ist Zeit?“
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Martin Heidegger, Sein und Zeit (1927): Zeitlichkeit als Existenzial
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Henri Bergson, Zeit und Freiheit (1889): Zeit als gelebte Dauer
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Alfred North Whitehead, Process and Reality (1929): Prozessualität der Welt
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Carlo Rovelli, The Order of Time (2018): moderne Physik der Zeit
Time Play
From a broader philosophical standpoint, the lecture can be situated within a lineage of thought that spans Heraclitus’s flux, Bergson’s durée, and Heidegger’s temporality. It also subtly echoes Paul Ricoeur’s idea of narrative identity, where human life is understood as a story shaped by irreversible events structured within cyclical timeframes—birthdays, anniversaries, seasons.
Dear Time-Havers,
Due to the many requests on this very specific topic, I’ll keep it short. Time. What is it, really? And now that this somewhat feeble question has been asked, let’s finally get started. Because time is running.
Alright. There are two things one must distinguish—otherwise one remains in uncertainty for all eternity. First, there is what one believes one knows. The famous certainty, as always, achieved by excluding whatever one is not capable of seeing. That is—yes, you guessed it once again—our worldview, attained through our active being-in-the-world.
In the case of time, this means we’ve come to recognize certain quite reliable regularities: periodic processes, some of which can unfold extremely slowly, even with an infinite period duration—where it may seem as though nothing is happening at all. But that’s just a minor quibble. You know where I’m going with this. For example: a clock, whose hands rotate with a known period, in contrast to the clock face. The only thing that matters here is the difference between the two periods, since, after all, the entire clock could also be rotating on its own axis. I know, this is incredibly boring, but please keep it in mind. Ultimately, everything hinges on the distinction between this and what follows.
And it’s not just the distinction—it’s the interaction between the two that will ultimately be decisive for a complete understanding.
Let’s move from the certainties and the physical descriptions to the uncertainties of the irreversible, the new, of life, etc. There are many terms for it, but no precise technical descriptions. Why such descriptions are impossible—we’ve likely already discussed. And with that, we’ve reached our two initially announced things: the reversible unchangeables and the irreversibles, to which, most likely, we all belong.
And I also notice that over the past few minutes, some of you seem to have aged more than others. Unfortunately, that can’t be undone. Because that’s life. Each of you runs your own process of creating irreversibly new things just a little differently, though in broadly similar ways.
And since what you typically refer to as your “I”, “self”, “person”, or whatever, is undoubtedly the totality of these processes and products, and since this totality is inevitably heading toward a point where so many irreversibilities will have been created that they leave the processes very little room to move—it is, unfortunately, unavoidable that you, as a person, or as a complete process, will cease to exist. Simply because the created irreversibilities become obstacles, no longer allowing important interactions. Petrification might be a suitable term here. Anyone who’s thinking of bureaucracy at this point is not entirely wrong. It’s always the same principle.
But back to the topic—and its conclusion.
What, then, is typically done? One makes use of those periodic processes which, in their abstractness and imagined unchangeability, are themselves timeless, using them as a helpful tool to make the life of you time-havers—who constantly produce the irreversible and the truly new (not just reshuffled versions of the old)—a bit more predictable.
And with that, it is time. As always, for something new. In this case, even if it might look like repetition: for a new night.
In that sense: Good night!
Analysis
The lecture "Time Play" from presents a playful yet philosophically rich meditation on the concept of time. Delivered in a conversational tone, it moves beyond standard metaphysical inquiries and instead engages in a nuanced phenomenological and existential reflection. The speaker does not seek to define time in objective terms alone but rather attempts to illuminate the interplay between physical temporality and the existential structure of human life.
1. Two Modes of Temporal Understanding
At the core of the lecture is a fundamental distinction between two modes of understanding time: reversible regularities and irreversible novelties. The first refers to the physical, measurable, and predictable patterns observed in nature—what might be called chronometric time. This is the realm of clocks, planetary rotations, and oscillating atomic particles. These processes are cyclical and, in principle, reversible or at least repeatable, thereby giving rise to our common notion of time as something uniform and objective. This view finds echoes in the work of physicists such as Newton, who conceived of absolute time as a constant backdrop to all change.
However, the lecture quickly moves to challenge this view by introducing a second layer: the irreversible flow of lived experience. This dimension of time is less about measurable intervals and more about processes of becoming, creativity, aging, and ultimately, decay. It aligns with the phenomenological approach found in thinkers like Martin Heidegger and Henri Bergson. Heidegger’s Sein und Zeit (1927), for instance, emphasized that temporality is not an external sequence of now-points but an internal structure of Dasein—being-there—in which past, present, and future are modes of existence, not points on a timeline.
2. Irreversibility and the Constitution of the Self
In a key passage, the speaker notes that each of us continuously undergoes a unique process of producing “irreversibly new” outcomes. These are not merely reconfigurations of existing elements but genuinely novel manifestations, unrepeatable and forward-bound. This insight resonates with the idea of existential temporality, where time is not only something we perceive but something we are. Each moment contributes to the formation of the self, not in the sense of passive accumulation, but as an active synthesis of irreversible becoming.
The lecture goes so far as to suggest that the self—our “I”, “person”, or “process”—is defined by this continual creation of irreversibility. And yet, this same process leads to an inevitable endpoint: the saturation of novelty and the onset of rigidity. The metaphor of petrification, linked humorously but poignantly to bureaucracy, captures the tragic arc of temporal existence. This aligns with the existentialist concern over facticity—the idea that we are bounded by a past we cannot change and a future that increasingly narrows with time.
3. The Consolation of Periodicity
Given this existential drama, what is to be done? Here the lecture returns to the “boring” physical time of clocks and orbits. These periodic, regular processes—unchanging in abstraction—are not dismissed. Instead, they are reintroduced as consolatory tools. While we, as “time-havers,” navigate the unpredictability of becoming, we borrow stability from the timelessness of repetition. This subtle move acknowledges the human need for predictability amidst the chaos of irreversibility.
The speaker’s ironic tone in describing these periodic measures as “timeless” evokes a kind of mythic function: while we cannot stop time’s irreversible flow, we can project timeless structures onto it to organize and soothe our fleeting experiences. In doing so, we achieve a degree of existential order, even if only temporarily.
4. Reflections and Implications
In sum, "Time Play" is not a dry metaphysical account but a lived meditation on what it means to exist in time. It suggests that to be is to age, to change irreversibly, and to become increasingly constrained by the very changes we produce. This tragic but meaningful arc underlies all human experience.
From a broader philosophical standpoint, the lecture can be situated within a lineage of thought that spans Heraclitus’s flux, Bergson’s durée, and Heidegger’s temporality. It also subtly echoes Paul Ricoeur’s idea of narrative identity, where human life is understood as a story shaped by irreversible events structured within cyclical timeframes—birthdays, anniversaries, seasons.
Finally, the closing gesture—“it is time… for a new night”—underscores the poetic continuity of time’s passage. It is a night like every other, yet also irreversibly unique. This blend of the familiar and the novel encapsulates the essence of time as lived: a dance between repetition and becoming.
References:
-
Heidegger, Martin. Sein und Zeit. 1927.
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Bergson, Henri. Time and Free Will: An Essay on the Immediate Data of Consciousness. 1889.
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Ricoeur, Paul. Time and Narrative. 1983–1985.
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Augustine. Confessions, Book XI (on time).
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Heraclitus, fragments (e.g., “No man ever steps in the same river twice…”).