Ein fiktiver Dialog über Kategorien, die sich gegenseitig erzeugen, verwandeln, reflektieren – und letztlich ins Paradoxe entgleiten. Der Text ist zugleich eine Parodie auf klassische Systemphilosophie und eine subtile Kritik an erkenntnistheoretischen Zirkelschlüssen. Dabei gelingt es dem Autor, mit wenigen Mitteln eine tiefgründige Debatte zu simulieren, die sowohl an Hegel, Kant und Fichte erinnert, als auch postmoderne Kritik à la Derrida oder Lyotard vorwegnimmt.
Es gibt ein Drittes!
Sicher? Wie unterscheiden sich denn das Erste und das Zweite?
Das Zweite bezieht sich auf das Erste.
Könnte sich das Erste auch auf das Zweite beziehen?
Sicher. Aber dann wäre das Zweite das Erste und das Erste das Zweite. Also bezieht sich doch wieder das Zweite auf das Erste.
Die können wohl nicht ohne einander?
Das Erste genügt sich selbst. Das Zweite existiert nur als Bezug auf ein Anderes.
Ein anderes Erstes?
Oder ein anderes Zweites. Dann aber wird dasjenige Zweite, auf das der Bezug erfolgt, für das sich beziehende Zweite zu einem Ersten.
Wow! Das Zweite wird zum Ersten. Kann es sich dann, obwohl es sich in ein Erstes verwandelt hat, immer noch auf etwas beziehen? Sei es ein Erstes oder auch ein Zweites, welches dann zu einem Ersten wird?
Ja, das geht.
Das bedeutet, ein Zweites, das sich in ein Erstes verwandelt hat, hat immer noch Eigenschaften, die eigentlich nur ein Zweites hat?
So ist es.
Wenn nun aber sich jedes Zweite in ein Erstes verwandeln kann, dann gibt doch eigentlich nur noch Erste, nämlich solche, die durch Umwandlung entstanden sind und solche, die schon immer Erste waren.
Genau. Und der Einfachheit halber nennen wir die durch Umwandlung entstandenen Ersten einfach Zweite.
Ok. Also Erste mit besonderen Eigenschaften und Erste ohne besondere Eigenschaften.
Sehr gut zusammengefasst.
Und was ist jetzt das Dritte?
Ah, ja. Das Dritte. Das ist gar nicht so schwer. Man nimmt das Zweite, das ein Erstes mit besonderen Eigenschaften ist, und stellt sich die Frage, was passiert, wenn es auf sich selbst Bezug nimmt.
Das geht?
Natürlich. Es muss sich doch seiner selbst bewusst sein können.
Bisher konnte ich noch folgen, aber jetzt...
So schwer ist das nicht. Es gibt das Erste, das ohne die besonderen Eigenschaften, dann gibt es das Zweite, das darauf Bezug nimmt, noch ohne Bezug zu sich selbst, und es gibt das Dritte, das sich auf das Zweite, als Teil seines Selbst bezieht und sich damit seiner selbst bewusst wird.
Ich weiß nicht... Das mit den zwei Ersten, einmal mit und einmal ohne besondere Eigenschaften fand ich irgendwie übersichtlicher.
Hat keiner gesagt, es wäre einfach.
Sind mir trotzdem zu viele. Das kommt durch die ganz Bezugnehmerei. Warum muss sich immer ein Eines auf ein Anderes beziehen?
Die sind nun einmal da.
Aber die entstehen doch erst durch die Bezugnehmerei. Du nimmst an, die sind da, das führt zur Bezugnehmerei, die das Eine und das Andere erst entstehen lässt? Darauf ist deine ganze Argumentation aufgebaut? Auf einem Zirkelbezug?
Weißt du was Besseres?
Lass die ganze Bezugnehmerei weg.
Aber dann gibt es doch nur noch das Eine. Das ist doch Unsinn!
Es gibt nicht nur das Eine. Es gibt ganz viele von der Art des Einen. Und die Vielen sind extrem unterschiedlich.
Wenig überzeugend.
Mag sein. Aber ohne Zirkelbezug.
Analyse
Der Text „Der metaphysische Zirkel“ ist eine raffinierte, dialogisch strukturierte Parodie auf spekulative Philosophie, insbesondere auf jene Metaphysik, die sich mit Kategorien wie „das Erste“, „das Zweite“ und schließlich „das Dritte“ beschäftigt. In spielerischer Weise führt der Text den Leser durch eine scheinlogische Konstruktion, die sich schrittweise selbst dekonstruiert. Der dabei entstehende „Zirkel“ ist nicht bloß inhaltlicher Gegenstand, sondern zugleich die Struktur des Textes selbst – ein literarisch-philosophisches Spiel, das sich auf klassische Denktraditionen bezieht, diese ironisch überzeichnet und zugleich kritisch hinterfragt.
1. Das Spiel mit den Kategorien: Erster – Zweiter – Dritter
Im Zentrum des Textes stehen drei zentrale Begriffe: das Erste, das Zweite und schließlich das Dritte. Der Text beginnt mit einem fast enthusiastischen Ausruf:
„Es gibt ein Drittes!“
Dies erinnert stark an die Triadik der Hegelschen Dialektik: These (Erstes), Antithese (Zweites), Synthese (Drittes). Doch anstatt ein dialektisches System zu entfalten, dekonstruiert der Text diese Struktur durch semantische Verschiebungen und Umkehrungen: Das Zweite kann sich auf das Erste beziehen, das Erste auf das Zweite, dann wird das Zweite zum Ersten – bis schließlich nichts mehr eindeutig „Erstes“ oder „Zweites“ ist. Diese Begriffsverwirrung wirkt wie eine Parodie auf jene metaphysischen Systeme, die mit scheinbar klaren Begriffen beginnen, um sich dann in ihrer eigenen Komplexität zu verfangen.
Verweis: Hegels Phänomenologie des Geistes verfolgt eine ähnliche Bewegung der Selbstaufhebung von Begriffen durch Widerspruch und Vermittlung, jedoch mit einem ernsthaften Ziel der Bewusstseinsentwicklung – während „Der metaphysische Zirkel“ diesen Prozess in eine absurde Spirale überführt.
2. Beziehung als konstituierendes Prinzip – oder bloßer Zirkelschluss?
Ein zentrales Thema des Dialogs ist das Beziehen. Das Zweite existiert nur durch seinen Bezug auf das Erste. Doch sobald sich dieser Bezug umkehrt oder auf sich selbst gerichtet wird, entsteht das Dritte: ein bewusstes, sich selbst reflektierendes Zweites – also ein Erstes mit besonderer Geschichte.
Diese Bewegung erinnert an transzendentale Argumentationen, wie sie etwa Kant und in modifizierter Weise Fichte entwickelt haben: Das Selbstbewusstsein entsteht durch einen Akt der Selbstbezüglichkeit. Doch der Text entlarvt diese Argumentation als zirkulär:
„Du nimmst an, die sind da, das führt zur Bezugnehmerei, die das Eine und das Andere erst entstehen lässt?“
Die Kritik erinnert an den klassischen Einwand gegen alle systematischen Metaphysiken: dass sie voraussetzen, was sie zu erklären versuchen. Der Titel des Textes benennt das treffend: der metaphysische Zirkel. Die Kritik an diesem Zirkel verweist auf eine philosophische Skepsis, wie sie bei Ludwig Wittgenstein oder auch in der phänomenologischen Reduktion Husserls anklingt – der Versuch, über alle vorausgesetzten Kategorien hinaus zur „Sache selbst“ zu gelangen.
3. Ironie als erkenntnistheoretisches Stilmittel
Stilistisch lebt der Text von einer Mischung aus trockenem Humor und philosophischer Terminologie. Die Figuren stellen tiefgründige Fragen, die durch Wortverdrehung, paradoxe Umkehr und absurde Vereinfachung ins Lächerliche gezogen werden. Dabei wird ein impliziter Zweifel am „Systemdenken“ formuliert:
„Mag sein. Aber ohne Zirkelbezug.“
Das ist der letzte Satz des Textes – eine resignativ-ironische Absage an alle geschlossenen Systeme, die mit Kategorien wie „das Eine“, „das Andere“ und „das Dritte“ operieren. Es klingt wie eine Stimme aus der postmetaphysischen Philosophie (vgl. Jürgen Habermas), die nicht mehr versucht, Letztbegründungen zu liefern, sondern sich mit diskursiven Verfahren zufriedengibt.
4. Der ontologische Schatten: Gibt es das Eine überhaupt?
Ein tieferer Aspekt des Textes ist die Frage nach dem Ursprung: Gibt es ein „Erstes“, das unabhängig von allem Anderen ist? Der Text behauptet:
„Das Erste genügt sich selbst.“
Das klingt beinahe aristotelisch – als Verweis auf den „unbewegten Beweger“ oder auf Plotins „Das Eine“ als Prinzip aller Dinge. Doch diese scheinbare Selbstgenügsamkeit wird sofort problematisiert, sobald das Erste in Beziehung zum Zweiten tritt – oder das Zweite selbstreflexiv wird. Am Ende bleibt die Einsicht: Schon die Behauptung eines „Ersten“ setzt implizit eine Struktur voraus, in der etwas „Erstes“ genannt werden kann – also bereits ein Bezug besteht.
Diese Kritik ließe sich mit Martin Heideggers Diktum in Verbindung bringen: „Das Sein ist nicht das Seiende.“ Der Versuch, ein erstes Prinzip festzuhalten, schlägt fehl, weil der Akt der Festhaltung selbst schon ein Bezug ist.
Fazit: Metaphysik als Spiel und Kritik
„Der metaphysische Zirkel“ ist ein philosophisches Kabinettstück: ein fiktiver Dialog über Kategorien, die sich gegenseitig erzeugen, verwandeln, reflektieren – und letztlich ins Paradoxe entgleiten. Der Text ist zugleich eine Parodie auf klassische Systemphilosophie und eine subtile Kritik an erkenntnistheoretischen Zirkelschlüssen. Dabei gelingt es dem Autor, mit wenigen Mitteln eine tiefgründige Debatte zu simulieren, die sowohl an Hegel, Kant und Fichte erinnert, als auch postmoderne Kritik à la Derrida oder Lyotard vorwegnimmt.
Das Werk fordert keine metaphysische Einsicht – sondern eher eine reflektierte Bescheidenheit gegenüber dem Drang zur Letztbegründung. Vielleicht ist der eigentliche Clou nicht das Dritte, sondern das Eingeständnis am Ende: „Lass die ganze Bezugnehmerei weg.“
Literaturhinweise zur Vertiefung:
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G.W.F. Hegel: Wissenschaft der Logik (1812)
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Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (1781)
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Johann Gottlieb Fichte: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794)
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Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen (1953)
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Martin Heidegger: Sein und Zeit (1927)
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Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen (1979)