Zirkuserinnerung

Der Text ist eine poetische Meditation über das Menschsein. Er verknüpft die spielerische Freiheit kindlicher Vorstellung mit der ernsten Tiefe philosophischer Reflexion über Zeit, Erinnerung und Sinn. Die scheinbar surrealen Szenen sind nicht Flucht aus der Realität, sondern ein anderer Zugang zu ihr – einer, der nicht über Analyse, sondern über Assoziation, Bild und Gefühl führt.

Hereinspaziert! Sehen Sie die unglaublichsten Attraktionen! Das Stehaufmännchen, das morgens manchmal schwer hochkommt, vollbringt auf seinem grasgrünen Fahrrad das Kunststück, sich für exakt eine halbe Stunde völlig regungslos in eine Linkskurve zu legen. Auf der gegenüberliegenden Seite, in der Rechtskurve, lauern bereits die Löwen und warten auf ihre Freilassung. Doch keine Angst. Löwenzahn tut nichts. Nachdem die Löwen ein wenig mit den Akrobaten durch die Manege getollt sind, öffnet sich der Vorhang für die Hauptattraktion. Das singende Zebra. Das Publikum ist tief berührt. Nie sah man glücklichere Gesichter. Nach der Vorstellung steigen die Zuschauer in ein ultramodernes Elektroflugzeug und rollen zum Ausgang. Was für ein Nachmittag! Müde und erschöpft begeben sich Löwen, Akrobaten und Zebra in ihre Unterkünfte. Das Stehaufmännchen schläft bereits tief und fest. Dunkelheit. Nebel legt sich über das Land. Das leise Lied des Vergessens. Die Jahre vergehen. Keiner erinnert sich mehr an die Akrobaten, an Löwenzähne, Stehaufmännchen und ein singendes Zebra. Nur manchmal, wenn der Geist suchend umherirrt und doch nichts Greifbares finden kann, dann erscheint ganz schwach eine verschwommene Erinnerung an eine unbeschwerte Zeit, in der alles möglich war. 

Analyse

Der Text „Zirkuserinnerung“ präsentiert sich auf den ersten Blick als ein poetisches Spiel mit surrealen Bildern aus einer Zirkusvorstellung. Doch unter der bunten Oberfläche entfaltet sich eine tiefgründige Reflexion über Erinnerung, Vergessen und die Konstruktion von Bedeutung. Der Zirkus fungiert hier als Metapher für das Bewusstsein, als Bühne für die flüchtige, fragmentarische Erfahrung menschlicher Existenz.

In einer Sprache, die zwischen Kindertraum und existenzieller Melancholie oszilliert, stellt der Text grundlegende Fragen: Was bleibt von unseren Erlebnissen? Wie funktionieren Erinnerung und Vergessen? Und was passiert, wenn der Geist nach etwas sucht, das nicht mehr da ist?

 

1. Zirkus als Metapher des Bewusstseins

„Hereinspaziert! Sehen Sie die unglaublichsten Attraktionen!“

Der Text beginnt mit der klassischen Zirkusrhetorik, die an die Schaustellertradition erinnert. Diese Einladung in die Manege fungiert als Eintritt ins Bewusstsein, in eine Welt der Konstruktionen, Rollen und Vorstellungen. Bereits in der Phänomenologie Edmund Husserls war das Bewusstsein immer intentional – auf etwas gerichtet. Der Zirkus hier ist eine Metapher für dieses gerichtete, aber nie vollständig fassbare Bewusstsein.

Die auftretenden Figuren – das Stehaufmännchen, die Löwen, das singende Zebra – sind wie Träume oder Gedankeninhalte, die kurz auftreten, dann wieder verschwinden. Sie sind weder logisch noch notwendig, sondern poetisch, absurd, symbolisch – so wie Gedanken es oft sind, wenn man sie nicht gleich rationalisiert.

 

2. Das Spiel mit Sprache und Ambivalenz

„...die Löwen und warten auf ihre Freilassung. Doch keine Angst. Löwenzahn tut nichts.“

Die komische Doppelbedeutung von „Löwen“ und „Löwenzahn“ zeigt die Kraft der Sprache, Realität umzudeuten. Dieses Spiel mit dem Wort bildet den Übergang von Bedrohung zur Harmlosigkeit, von Tier zur Pflanze. So entsteht ein Moment der kognitiven Dissonanz, wie ihn auch Paul Valéry oder Lewis Carroll in ihren Sprachspielen erzeugen. Der Text lädt ein, das Alltägliche in einer neuen Ordnung zu denken – eine poetische Form der Dekonstruktion, wie sie Jacques Derrida beschreiben würde: Bedeutungen sind nicht fix, sondern verschieben sich ständig.

 

3. Erinnerung als melancholisches Echo

„Nur manchmal, wenn der Geist suchend umherirrt [...] dann erscheint ganz schwach eine verschwommene Erinnerung an eine unbeschwerte Zeit...“

Diese letzte Passage ist von tiefer Melancholie durchzogen. Die Erinnerung wird hier nicht als aktiver Zugriff auf das Vergangene verstanden, sondern als diffuser, emotionaler Nachhall, fast körperlos. Das erinnert an Marcel Prousts berühmte Madeleine-Episode in Auf der Suche nach der verlorenen Zeit – ein scheinbar banaler Sinneseindruck, der die Vergangenheit plötzlich und überwältigend zurückruft.

Doch in Zirkuserinnerung bleibt die Rückkehr verwehrt. Das Vergessen hat die Regie übernommen. Die Erinnerung bleibt schemenhaft, „verschwommen“, ohne klare Konturen. Dies entspricht dem postmodernen Verständnis von Erinnerung als Konstruktion – immer selektiv, immer subjektiv, immer unvollständig.

 

4. Das singende Zebra – Ein Symbol des Unmöglichen

„Das Publikum ist tief berührt. Nie sah man glücklichere Gesichter.“

Das singende Zebra, als „Hauptattraktion“, steht für das Unerwartete, das Unvereinbare, das dennoch ergriffen macht. In seiner Unwahrscheinlichkeit liegt seine emotionale Kraft. Es verkörpert jenen Moment der reinen Möglichkeit, die Gaston Bachelard als das poetische Imaginäre beschrieb – ein Ort, an dem sich Rationalität auflöst zugunsten eines offenen, kreativen Möglichkeitsraums.

In einer von Effizienz und Funktionalität geprägten Welt erinnert uns das singende Zebra an jene seltenen Augenblicke, in denen Sinn nicht berechnet, sondern empfunden wird.

 

5. Der letzte Vorhang: Vergessen als metaphysischer Zustand

„Dunkelheit. Nebel legt sich über das Land. Das leise Lied des Vergessens.“

Hier kulminiert der Text in einer sanften, aber unerbittlichen Erkenntnis: Alles geht vorüber. Das Bild des Nebels evoziert das Unklare, das Unbewusste, das, was entgleitet. Das „leise Lied des Vergessens“ klingt fast wie ein Schlaflied – nicht bedrohlich, sondern versöhnlich. Die Welt der Vorstellung – Akrobaten, Tiere, Zirkuszelt – wird nicht zerstört, sondern gleitet langsam in einen Zustand der Nicht-Erinnerbarkeit.

In Anlehnung an Martin Heidegger ließe sich sagen: Die Zirkuswelt ist ein „Seinsgeschehen“, das sich dem Zugriff entzieht, indem es vergeht. Vergessen ist nicht nur Mangel, sondern auch ein notwendiger Modus menschlicher Existenz, um weiterleben zu können.

 

Fazit: Zwischen Manege und Metaphysik

„Zirkuserinnerung“ ist eine poetische Meditation über das Menschsein. Der Text verknüpft die spielerische Freiheit kindlicher Vorstellung mit der ernsten Tiefe philosophischer Reflexion über Zeit, Erinnerung und Sinn. Die scheinbar surrealen Szenen sind nicht Flucht aus der Realität, sondern ein anderer Zugang zu ihr – einer, der nicht über Analyse, sondern über Assoziation, Bild und Gefühl führt.

In dieser „Zirkuserinnerung“ sind wir alle Zuschauer und Akteure zugleich. Wir vergessen, erinnern, deuten und staunen – vielleicht ist das der eigentliche Sinn des Spiels.

 

Literaturverweise:

  • Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (1913–1927)

  • Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen (1953)

  • Jacques Derrida: La voix et le phénomène (1967)

  • Gaston Bachelard: La poétique de l’espace (1957)

  • Martin Heidegger: Sein und Zeit (1927)