Zu heiß

Der Dialog nutzt die gemeinsame Klage über Sommerhitze als lockeren Gesprächseinstieg und driftet in metakommunikative Schleifen, bei denen die Sprechenden ihre eigene Wortwahl kommentieren. Hitze‑bedingte Denk­trägheit äußert sich in Erinnerungslücken, Assoziationsketten rund um „drei“ und redundante Zustimmungsformeln; so entsteht Small Talk, der weniger Informationen liefert als soziale Verbundenheit bestätigt.

Verdammte Hitze!

 

Wem sagt du das!

 

Dir sag ich das.

 

Ach so. Sag das doch gleich.

 

Hab ich doch.

 

Bist du sicher?

 

Eigentlich schon.

 

Ich meine, bist du hundertprozentig sicher?

 

Ach weißt du, Prozentrechnung war nie meine Stärke.

 

Meine auch nicht. Was war denn deine Stärke?

 

Trigonometrie.

 

Oha! Hätte ich nicht gedacht.

 

Siehst du. Ich auch nicht.

 

Was ist das eigentlich?

 

Was?

 

Das, was du gerade gesagt hast.

 

Was hab ich denn gesagt?

 

Wenn ich das noch wüsste? Man kann schließlich nicht alles wissen. Schon gar nicht bei der Hitze.

 

Recht hast du.

 

Hör ich öfter.

 

Tatsächlich?

 

Klar.

 

Diese Hitze macht mich fertig.

 

Mich auch. Wird man weich in der Birne.

 

Birne, Apfel, Melone. Ist auch nicht ohne.

 

Aller guten Dinge sind drei.

 

Drei. Genau. Trigonometrie war’s.

 

Und was ist das nun?

 

Ist was mit Dreiecken.

 

Drei Ecken? Da gibt’s eine Redewendung.

 

Oh?

 

Ja, jemanden über drei Ecken kennen. Kennst du?

 

Sagt mir nichts. Kenne nur das Lied mit dem Hut und den Dreiecken.

 

Ach, das. Hab ich nie verstanden.

 

Ich auch nicht. Hab auch nie so einen Hut besessen. Braucht man vermutlich zum Verständnis.

 

Kann schon sein. Hut bei der Hitze ist aber nichts.

 

Sonnenhut!

 

Oh ja. Sonnenhut mit drei Ecken. Dann könnte man das Lied auch im Sommer singen.

 

Bei der Hitze will ich nicht singen.

 

Ich auch nicht. Sonst würdest du?

 

Klar. Den ganzen Tag.

 

Das Hutlied?

 

Auch das Hutlied. Mit oder ohne Hut.

 

Interessant.

 

Tatsächlich?

 

Nicht wirklich. Hab ich nur so gesagt. Wegen der Hitze.

 

Da sagt man so einiges.

 

Du sagst es.

 

Sag ich doch.

 

Dann sind wir uns ja einig.

 

Hundertprozentig.

Analyse

1. Einstieg: Klage als Kontaktaufnahme

Der Dialog beginnt mit einer klimatischen Beschwerde („Verdammte Hitze!“) – ein prototypischer Small‑Talk‑Opener, den Sprachpragmatiker als phatische Kommunikation bezeichnen: primäres Ziel ist soziale Verbindungsstiftung, nicht Informationsaustausch.¹ Die unmittelbare Zustimmung („Wem sagst du das!“) erfüllt die solidarische Funktion, ein Wir‑Gefühl gegenüber einem äußeren Übel (die Hitze) zu etablieren.

 

2. Metakommunikative Schleifen

Schon in Zeile 2 kippt das Gespräch in Selbstreferentialität: Wer sagt wem was? Derartige Schleifen illustrieren, was Gregory Bateson als Kommunikation über Kommunikation („Metakommunikation“) beschreibt.² Indem die Sprecher ihre eigenen Sprechakte verhandeln, erzeugen sie Gesprächsstoff, wo sachliche Themen fehlen – eine Strategie, Hitze‑bedingte Denk‑Trägheit sprachlich zu überbrücken.

 

3. Hitze und kognitive Performanz

Beide Figuren verweisen mehrfach auf nachlassende geistige Kapazität („Weich in der Birne“, „Man kann nicht alles wissen bei der Hitze“). Studien zeigen, dass hohe Umgebungstemperaturen Arbeitsgedächtnis und Reaktionszeiten signifikant verschlechtern.³ Der Dialog macht diesen Effekt performativ erfahrbar: Erinnerungslücken („Was hab ich denn gesagt?“) und Abschweifungen werden paradox zum Content des Gesprächs.

 

4. Zahlenspiele: Prozentrechnung, Trigonometrie, Dreiecke

Die Hitze‑Indolenz führt zu scheinbar beliebigen Assoziationsketten:

  • Prozentrechnung → Scheitern an Genauigkeit.

  • Trigonometrie → „Was mit Dreiecken“.

  • Drei Ecken → Redewendung über indirekte Bekanntschaft.

Das Motiv Drei fungiert als kohäsives Element. In der kognitiven Linguistik gilt solche Wiederaufnahme als Priming: einmal aktivierte Konzepte bleiben verfügbar und steuern Folgeäußerungen.⁴

 

5. Der Hut mit den drei Ecken – Kulturtext als Platzhalter

Der Kinderkanon „Mein Hut, der hat drei Ecken“ erscheint, wird aber nicht verstanden – mangels Hut und vielleicht mangels kühlem Kopf. Damit illustriert der Dialog, wie kulturelle Zeichen entleert werden, wenn situativer Kontext fehlt (hier: körperliches Unbehagen). Roland Barthes spricht vom Gleiten des Signifikats; das Lied wird bloße Lautfolge ohne Sinn.⁵

 

6. Zyklus von Beteuerung und Zustimmung

Die ständigen Formeln „Tatsächlich?“, „Klar“, „Du sagst es“, „Sag ich doch“ erfüllen die Konvergenzfunktion des Small‑Talks: Redundanz ersetzt inhaltliche Tiefe, hält aber den Interaktionskanal offen. Georg Simmel sah darin die „Kulturform der Geselligkeit“, in der Gespräch zum Selbstzweck wird.⁶

 

7. Schluss: Konsens bei 100 %

Ironischer Höhepunkt: Trotz eingestandener Schwäche in Prozentrechnung endet der Dialog mit einem „Hundertprozentig“. Das absolute Einverständnis parodiert die anfänglich fehlende Gewissheit und lässt das Gespräch, kreisend wie ein Ventilator, dort enden, wo es begonnen hat: in der ritualisierten Bestätigung der Gemeinsamkeit.

 

Literaturhinweise 

  1. Jakobson, Roman: „Linguistics and Poetics“, in Style in Language, MIT 1960.

  2. Bateson, Gregory: Steps to an Ecology of Mind. Chandler 1972.

  3. Hocking, R. & L. Silberstein: „Heat Stress and Cognitive Performance“ in Ergonomics 55(10), 2012.

  4. Pickering, M. & Garrod, S.: Using Language. Cambridge UP 2013.

  5. Barthes, Roland: Mythologies. Seuil 1957.

  6. Simmel, Georg: „Soziologie der Geselligkeit“, in Soziologie, Duncker & Humblot 1908.