Eine philosophische Rehabilitierung der spekulativen Tradition unter Vorbehalt. Günther erkennt in ihr einen notwendigen historischen Impuls zur Befreiung vom überkommenen logischen Apparat – doch er kritisiert scharf, dass dieser Impuls im Mythos steckenblieb, statt sich in neue rationale Formen zu überführen.
Beiden Auffassungen wird hier auf das nachdrücklichste widersprochen. Die spekulativen Texte enthalten weder Unsinn, wie die mathematisch und naturwissenschaftlich orientierten Denker annehmen, aber sie enthalten auch keinen übermenschlichen Tiefsinn, der sich prinzipiell einer strikt rationalen und mechanisierbaren (!) Kommunikationsmethode entziehen muss. Sie sind vielmehr ein Drittes. Sie sind relativ durchsichtige Dokumente eines (missglückten) Versuches, in dem sich die philosophische Reflexion aus den Fesseln einer überlebten logischen Tradition und ihr zugehörigen Systems der zweiwertigen Platonisch-Aristotelischen-Leibnizschen Logik zu befreien sucht.
Dieser Befreiungsversuch ist, wie wir in den vorangehenden Untersuchungen ausgeführt haben, im Wesentlichen aus zwei Gründen gescheitert: Erstens hielten die spekulativen Idealisten (Kant eingeschlossen) unverbrüchlich daran fest, dass alles formale Denken zweiwertig sei, d.h. sich in einer einfachen, unmittelbaren Antithese von Positivität und Negation bewege, dass also gedankliche Motive, die sich dieser Dichotomie nicht fügen wollten, grundsätzlich nicht mehr formalisierbar sein und deshalb keinem ichhaft denkenden, individuellen, logischen Subjekt zugerechnet werden könnten. Aus diesem Irrtum ergab sich aber direkt der zweite: Jedes individuelle Subjekt steht in einem Komplementärverhältnis zu dem absoluten, unendlichen, universalen Subjekt. Die über die dichotomischen Formen der Reflexion überfließenden Motive sind deshalb die „Gedanken“ des universalen Subjekts. Da das Letztere aber die absolute Identität von Subjekt und Objekt darstellt, sind jene „Gedanken“ nicht mehr bloß „subjektive“ Reflexionen eines individuellen Ichs, sie sind vielmehr Bilder des metaphysischen Realprozesses der Wirklichkeit.
Damit reduziert sich die Widerlegung der spekulativen Logik als einer Prozedur, die nicht mehr Form und Inhalt unterscheidet, auf eine sehr einfache Formel. Es gilt zu zeigen, dass jene Reflexionsmotive, die sich dem dichotomischen auf das einzelne Ich bezogene Denken grundsätzlich nicht fügen wollen, in einem nicht auf dem einfachen Umtauschverhältnis von Positivität und Negation aufgebauten Denken formalisierbar sind. Dies wird in dem folgenden Teil dieses Bandes wenigstens in vorbereitender Weise geschehen.
(Aus: Gotthard Günther, „Idee und Grundriß einer nicht-Aristotelischen Logik“, Felix Meiner Verlag, 1978, S. 305, 306)
Analyse
I. Der dritte Weg: Weder Unfug noch Offenbarung
Der Text markiert einen entscheidenden Punkt in Gotthard Günthers Auseinandersetzung mit der spekulativen Philosophie des deutschen Idealismus. Es ist ein Versuch, die gängigen Fronten aufzulösen: Auf der einen Seite stehen die wissenschaftlich geprägten Kritiker, die Hegel, Fichte oder Schelling als dunklen Unsinn abtun; auf der anderen Seite finden sich Anhänger eines metaphysischen Tiefsinns, die die Unverständlichkeit dieser Werke geradezu kultisch verehren.
Günther schlägt einen dritten Weg vor: Die spekulativen Texte seien weder „Unsinn“ noch „übermenschlicher Tiefsinn“, sondern Ausdruck eines missglückten, aber historisch bedeutenden Versuchs, sich von der klassischen, aristotelischen Zweiwertlogik zu emanzipieren. Sie sind – so Günther – ernstzunehmende, jedoch formal unzureichend gelöste Bemühungen um eine Erweiterung der Denkmöglichkeiten jenseits der starren Dichotomie von „wahr“ und „falsch“.
II. Das Scheitern am Zweiwertsystem
Günthers zentrale Diagnose ist klar: Der spekulative Idealismus hat sich nicht radikal genug von der klassischen Logik gelöst. Trotz aller Betonung des „absoluten Subjekts“ oder des „Weltgeistes“ hielten die Idealisten – selbst Kant – an einer Logik fest, die nur zweiwertig denkt: Positivität oder Negation, Sein oder Nichtsein, Subjekt oder Objekt.
Diese Fixierung führt zu zwei folgenreichen Irrtümern:
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Irrtum 1: Alles formale Denken ist zweiwertig.
Alles, was nicht in die Dichotomie von Positivität und Negation passt, erscheint als „unformalisierbar“ und damit irrational oder nur mystisch zugänglich. -
Irrtum 2: Der Rückgriff auf das „universale Subjekt“.
Wenn gewisse Gedanken nicht mehr dem individuellen Ich zugeordnet werden können, erklärt man sie kurzerhand zur Stimme eines metaphysischen Absoluten – der „Weltgeist“ spricht durch den Menschen, das Denken wird zur Theophanie.
Diese Argumentationslinie erinnert stark an die Kritik der Logischen Empiristen an der Metaphysik, etwa bei Carnap oder Neurath, die unüberprüfbare Aussagen als bedeutungslos bezeichneten. Günther jedoch geht einen entscheidenden Schritt weiter: Er fordert nicht die Verbannung spekulativen Denkens, sondern dessen neue Formulierbarkeit – allerdings auf einer erweiterten logischen Grundlage.
III. Das Problem der Identitätsmetaphysik
Ein besonders kritischer Punkt ist Günthers Ablehnung der Hegelschen Formel von der Identität von Subjekt und Objekt. Diese absolute Identität hebt die Differenz auf, die normalerweise für begriffliches Denken notwendig ist. Was bleibt, ist ein Denken, das sich selbst aufhebt – in seiner radikalsten Form ein metaphysischer Monismus, der das rationale Subjekt als Vermittlungsinstanz überflüssig macht.
Wenn jedoch kein Unterschied mehr zwischen Denken und Wirklichkeit besteht, dann verliert der Gedanke seine kritische Funktion. Er wird nicht mehr vermittelt, sondern offenbart. Damit schließt sich die Philosophie aus dem Diskurs aus – sie wird zur hermetischen Lehre, zur Gnosis.
IV. Perspektive: Die Möglichkeit einer formalisierten Nicht-Dichotomie
Der vielleicht wichtigste Gedanke des Textes liegt in seiner positiven Perspektive: Die spekulative Philosophie sei nicht falsch, weil sie über das klassische Denken hinausgeht, sondern weil sie dies nicht konsequent genug formalisiert hat. Günther stellt damit die Grundfrage seines Gesamtwerks:
Wie lässt sich ein Denken formalisieren, das nicht auf der strikten Antithese von Positivität und Negation beruht?
Seine Antwort ist die Entwicklung einer mehrwertigen, operativen Logik, die Subjektivität nicht ausschließt, sondern dynamisch mitdenkt. Anstelle eines statischen, binären Systems tritt ein Denken in Komplementaritäten, Relationen und Prozessen.
Hier knüpft Günther indirekt an moderne Entwicklungen an:
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Quantenlogik (z.B. Birkhoff & von Neumann), die klassische Identitätsprinzipien auflöst;
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Kybernetik und Systemtheorie (z.B. Wiener, Luhmann), die komplexe Rückkopplungsmechanismen beschreiben;
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Computational Logic und nicht-klassische Logiken (wie Fuzzy Logic), die mit Abstufungen und Wahrscheinlichkeiten arbeiten.
All dies sind Denkformen, die strukturiert, aber nicht dichotomisch sind – genau das, was Günther als Ausweg aus dem spekulativen Dilemma vorschlägt.
V. Fazit: Der Versuch war ehrenwert – aber unvollendet
Eine philosophische Rehabilitierung der spekulativen Tradition unter Vorbehalt. Günther erkennt in ihr einen notwendigen historischen Impuls zur Befreiung vom überkommenen logischen Apparat – doch er kritisiert scharf, dass dieser Impuls im Mythos steckenblieb, statt sich in neue rationale Formen zu überführen.
Günthers Werk ist der Versuch, diese Aufgabe nachzuholen: das Denken zu ent-dichotomisieren, ohne in Unbestimmtheit zu zerfließen; Reflexion zu ent-mystifizieren, ohne ihre Tiefe zu verlieren. Was er fordert, ist eine Formalisierbarkeit des Nicht-Formalisierten, eine Sprache des Unbegriffenen, eine Logik der Dynamik.
Der spekulative Idealismus hat die Notwendigkeit erkannt, sich aus dem Korsett der alten Logik zu befreien. Aber er hat – so Günther – die Werkzeuge dazu nicht gehabt. Diese Werkzeuge zu entwickeln, bleibt die Aufgabe einer Philosophie, die sowohl Tiefsinn als auch Verständlichkeit, Subjektivität und System will.
Literaturhinweise:
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Gotthard Günther: Idee und Grundriss einer nicht-Aristotelischen Logik, Felix Meiner Verlag, 1978.
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Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, insbesondere zur transzendentalen Deduktion.
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Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes, Wissenschaft der Logik.
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Bertrand Russell & Alfred North Whitehead: Principia Mathematica – Versuch einer formalen Totalität.
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Rudolf Carnap: Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache.
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Ludwig Wittgenstein: Tractatus Logico-Philosophicus (frühe Phase), Philosophische Untersuchungen (späte Phase).